Die Lehre aus Berlin und Thüringen: Schluss mit der Geheimwahl von Regierungen!
© dpa/Hannes P. Albert Die Lehre aus Berlin und Thüringen: Schluss mit der Geheimwahl von Regierungen!
Die Berliner Blamage zeigt erneut: Über die Wahl der Regierungschefs in den Parlamenten sollte in offener Abstimmung entschieden werden. Ein Gastbeitrag.
Ein Gastbeitrag von Frank Decker
Die Geschichte missglückter oder ganz gescheiterter Regierungswahlen ist am Donnerstag in Berlin um eine weitere Episode bereichert worden. Obwohl die Koalition von CDU und SPD im Abgeordnetenhaus über sechs Mandate mehr verfügt, als zur absoluten Mehrheit notwendig sind, fehlten Kai Wegner bei der Wahl zum Regierenden Bürgermeister im ersten Wahlgang neun Stimmen und im zweiten Wahlgang eine Stimme.
Mindestens 15 Abgeordnete aus den eigenen Reihen müssen ihm also im ersten Wahlgang die Stimme versagt haben und mindestens sieben im zweiten. Im dritten Wahlgang kam er dann genau auf die 86 Stimmen, die CDU und SPD gemeinsam „kontrollieren“, doch ist keineswegs sicher, dass sie auch von dort gekommen sind. Wenn die Behauptung der AfD stimmt, dass ein Teil ihrer Abgeordneten Wegner im dritten Wahlgang mitgewählt habe, wäre der neue Regierende Bürgermeister nur dank deren Stimmen ins Amt gekommen.
Allein, ob sie stimmt, kann niemand nachprüfen, denn die Wahl des Regierungschefs findet in Berlin – genauso wie in den anderen Landtagen und im Bundestag – als geheime Abstimmung statt, erfolgt also „mit verdeckten Stimmzetteln“, wie es in Paragraf 75 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses heißt.
Dass daran in der Bundesrepublik kaum jemand Anstoß nimmt, ist merkwürdig. Die geheime Wahl lässt sich nämlich mit demokratischen Grundsätzen nur schwer vereinbaren. Indem sie es den Wählerinnen und Wähler unmöglich macht nachzuvollziehen, wie die Abgeordneten das von ihnen erteilte Mandat ausüben, enthebt sie diese von der Pflicht, sich gegenüber der Wählerschaft für ihr Tun und Lassen zu verantworten. Verantwortlichkeit ist aber das Grundprinzip der parlamentarisch-demokratischen Regierungsform.
Die geheime Stimmabgabe hat die rechtspopulistische AfD eingeladen, in Berlin dasselbe Spielchen zu spielen wie drei Jahre zuvor in Thüringen.
Frank Decker, Politikwissenschaftler an der Universität Bonn
Mit der geheimen Stimmabgabe gerät die Vertrauensabstimmung, die die Wahl eines Regierungschefs eigentlich sein soll, fast automatisch zu einer Misstrauensabstimmung. Auch in Berlin begann nach dem ersten Wahlgang sogleich das Rätselraten, woher die fehlenden Stimmen gekommen sein mögen. CDU und SPD beschuldigten sich dabei erwartungsgemäß gegenseitig. Wie soll in einem solchen Verdachtsklima eine gemeinsame Vertrauensbasis in der verabredeten Regierung entstehen?
Schlimmer noch: Die geheime Stimmabgabe hat die rechtspopulistische AfD eingeladen, in Berlin dasselbe Spielchen zu spielen wie drei Jahre zuvor in Thüringen, als sie mit ihren Stimmen im dritten Wahlgang dem FDP-Politiker Thomas Kemmerich in das Amt des Ministerpräsidenten verhalf.
Dass sich CDU und SPD jetzt darüber empören, ist wohlfeil, waren es doch ihre eigenen Abgeordneten, die der AfD dieses Spiel durch die fehlenden Stimmen im ersten und zweiten Wahlgang erst ermöglicht haben.
Dass Abgeordnete die Gelegenheit des ersten und zweiten Wahlgangs gerne nutzen, um dem zu wählenden Kandidaten einen „Denkzettel“ zu verpassen, lässt sich an zahlreichen Regierungswahlen aus der jüngeren Vergangenheit belegen. So fehlten Angela Merkel bei ihrer ersten Wahl zur Bundeskanzlerin 2005 49 Stimmen aus den eigenen Reihen – der Verdacht liegt nahe, dass sie ähnlich wie jetzt in Berlin vor allem von der mit ihrer Rolle als Juniorpartnerin fremdelnden SPD gekommen sein dürften.
Reiner Haseloff brauchte für seine Wahl zum Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt 2021 (wie zuvor schon 2016) trotz komfortabler Mehrheit einen zweiten Wahlgang – genauso wie Georg Milbrath in Sachsen 2004. Christine Lieberknecht wurde in Thüringen 2009 sogar erst im dritten Wahlgang gewählt.
Ihm fehlte bei der Wiederwahl zum Regierenden Bürgermeister 2006 eine Stimme: Klaus Wowereit (SPD). © dpa/Peer Grimm
Auch in Berlin fehlte Klaus Wowereit bei seiner Wiederwahl zum Regierenden Bürgermeister 2006 im ersten Wahlgang eine Stimme. Das Abgeordnetenhaus nahm dies 2009 zum Anlass, das Wahlverfahren in der Verfassung zu präzisieren.
Die Bestimmungen zum dritten Wahlgang bleiben aber unklar. Was bedeutet die Wahl mit „den meisten Stimmen“, wenn – was der Regelfall sein dürfte – sich nur ein Kandidat der Wahl stellt? Dürfen dann auch Nein-Stimmen zugelassen und mitgezählt werden? Dies macht eigentlich keinen Sinn, da ja die Absenkung der Mehrheitsschwelle gerade dazu dienen soll, die Möglichkeit einer Minderheitsregierung zu eröffnen.
Neben einer Beseitigung solcher – auch in anderen Länderverfassungen bestehenden – Unklarheiten wäre es sinnvoll und wünschenswert, dass sich die Verfassungsgeber endlich zur Abschaffung der überkommenen Geheimwahl durchringen, die es in dieser Form fast nur in Deutschland gibt. In Berlin bräuchte man dazu noch nicht einmal die Verfassung zu ändern – eine Anpassung der Geschäftsordnung reichte aus.
Wenn Befürworter der Geheimwahl diese mit dem Schutz des freien Mandates begründen, übersehen sie, dass die Demokratie hierzulande nicht nur auf der freien Zustimmung der Abgeordneten beruht, sondern auch darauf, dass diese Abgeordneten als Vertreter einer Partei gewählt werden.
Frank Decker, Politikwissenschaftler an der Universität Bonn
Die Befürworter rechtfertigen die „verdeckten Stimmzettel“ in der Regel damit, dass nur so das in Artikel 38 des Grundgesetzes festgeschriebene freie Mandat wirksam geschützt werden könne. Aus demokratischer Sicht ist das nicht nachvollziehbar. Zu Ende gedacht würde es bedeuten, dass auch bei Gesetzesbeschlüssen, die ja fraktionsintern ebenfalls umstritten sein können, stets geheim abgestimmt werden müsste.
Das Argument, dass Personenentscheidungen als „Wahlen“ anders zu betrachten seien als Abstimmungen bzw. Entscheidungen über Sachfragen, weil es bei ihnen um eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen Wählern und Gewählten gehe, verfängt ebenfalls nicht.
Denn bei der Regierungswahl handelt es sich ja nicht um eine „bloße“ Personalentscheidung über den Regierungschef, sondern um eine Entscheidung über die Bildung und den Bestand einer Regierung. Als solche stellt sie eine grundsätzliche politische Richtungsentscheidung dar, die die Grundlage aller nachfolgenden Sachentscheidungen schafft. Warum sollte ausgerechnet hier das Transparenzgebot nicht greifen?
Björn Höcke, Landespartei- und Fraktionschef der AfD Thüringen, gratulierte 2020 Thomas Kemmerich (FDP) zur Wahl zum Thüringer Ministerpräsidenten, der aber wenige Tage darauf zurücktrat. © dpa/Bodo Schackow
Wenn Befürworter der Geheimwahl diese mit dem Schutz des freien Mandates begründen, übersehen sie, dass die Demokratie hierzulande nicht nur auf der freien Zustimmung der Abgeordneten beruht, sondern auch darauf, dass diese Abgeordneten als Vertreter einer Partei gewählt werden.
Fühlen sich die Abgeordneten dem Wählervotum verpflichtet, können sie sich von den Positionen dieser Partei also – trotz ihres freien Mandates – nicht nach Belieben entfernen. Nach Belieben heißt, dass sie es dürfen (und vielleicht sogar tun sollten), sofern dafür gute Gründe vorliegen. Ob das der Fall ist, kann man aber nur erkennen, wenn diese Gründe offengelegt werden.
Welche Gründe könnten die „Abweichler“ am Donnerstag dazu bewogen haben, dem designierten Bürgermeister ihre Stimme zu versagen? Für die SPD-Seite liegt die Antwort nach der innerparteilich hoch umstrittenen Koalitionsentscheidung auf der Hand. Bei der CDU wird spekuliert, dass der ein oder andere Abgeordnete seinen Unmut über das Verhandlungsergebnis und Personaltableau des Wegner-Senats ausgedrückt haben könnte. Handelt es sich dabei um redliche Motive?
Dass die unterlegene Minderheit in einer Partei oder Fraktion die Mehrheitsmeinung loyal mitträgt, gehört zu den Funktionsbedingungen einer parlamentarischen Parteiendemokratie. In der SPD-Fraktion hatten sich in einer Probeabstimmung zwei Abgeordnete offen dazu bekannt, Wegner nicht zu wählen. Die anderen Abweichler brachten diesen Mut nicht auf, sondern zogen es vor, ihre vermutlich nicht ganz so ehrenhaften Motive unter dem schützenden Deckmantel der Geheimwahl zu verbergen.
Die Geheimwahl ist ein typisches Beispiel der „pfadabhängigen“ Entwicklung politischer Institutionen. Sie gilt in der Bundesrepublik als so selbstverständlich, dass es schwerfallen wird, sie wieder abzuschaffen und durch eine offene Abstimmung zu ersetzen, wie es aus demokratischer Sicht geboten wäre.
Wahrscheinlich braucht es noch weitere Vorfälle wie in Thüringen oder jetzt in Berlin, um ein Umdenken zu bewirken. Dass es diese unter den Bedingungen knapperer Mehrheiten und komplizierterer Koalitionsbildungen in einer sich pluralisierenden Parteienlandschaft geben wird, erscheint schon heute relativ gewiss.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de