Wie evakuierte Israelis in Tel Aviv leben: „Die Leute fuhren los, nur mit dem, was sie gerade am Körper hatten“
© Montage: Tagesspiegel/Fotos: Jenny Havemann Wie evakuierte Israelis in Tel Aviv leben: „Die Leute fuhren los, nur mit dem, was sie gerade am Körper hatten“
Nach der Hamas-Attacke versorgte die Bloggerin Jenny Havemann tagelang Menschen, die aus der Nähe des Gazastreifen nach Tel Aviv evakuiert wurden. Was sie erlebte – ein Protokoll.
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Die Bloggerin und Unternehmerin Jenny Havemann lebt seit 13 Jahren mit ihrem Mann in Israel, seit acht Jahren in der Nähe von Tel Aviv. Das Paar hat drei Kinder. Am Samstagmorgen, dem 7. Oktober, überfiel die Terrororganisation Hamas Israel. Gegen 6.30 Uhr hörte Havemann den Raketenalarm und ging mit ihrer Familie in den Bunker, doch am Schabbat benutzen sie weder das Handy noch das Internet. Erst abends in der Synagoge bekam sie mit, was passiert war. Da gab es bereits hundert Tote und viele Entführte.
Aktuell befindet Jenny Havemann sich für wenige Tage in München, will danach aber nach Israel zurückkehren. Kurz vor ihrer Abreise nach Deutschland berichtete sie dem Tagesspiegel von ihren Erlebnissen.
Jenny Havemann wurde 1986 im ukrainischen Dnepropetrovsk geboren und zog 1996 mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie wuchs in Hamburg auf. Seit 2010 lebt sie in Israel. © Jenny Havemann
„Ich habe gerade ein bisschen Angst. Oder vielleicht ist ‚Angst‘ zu viel gesagt, aber ich bin nervös, weil Raketen zu hören sind. Ich lebe mit meinem Mann und meinen drei Kindern etwas nördlich von Tel Aviv und habe Sachen für geflüchtete Familien besorgt, die aus dem Süden Israels evakuiert wurden.
Wenn man Sirenen heulen hört, liegt das Ziel der Raketen direkt an dem Ort, an dem man sich befindet. Man muss dann sofort in den Bunker. Am Signal kann man hören, wie viel Zeit man ungefähr hat, um hinzugehen. Bei den Explosionen derzeit ist das anders, das ist so ein allgemeiner Geräuschpegel.
Aus dem Süden evakuierte Israelis in einem Kibbuz in der Nähe von Tel Aviv. Ob und wann sie nach Hause zurückkönnen, ist ungewiss. © Jenny Havemann
Trotzdem bin ich seit Samstag in der Stadt unterwegs und habe mein Auto vollgeladen mit Sachen für die evakuierten Familien. Sie sind in der Nähe der Stadt in zwei Kibbuzim untergebracht. In dem einen wurde der Fußboden des Speisesaals einfach voller Matratzen gelegt, das andere hat ein Hotel, das für die Evakuierten geräumt wurde. Es gibt Listen, in die eingetragen wird, was die Leute brauchen. Mit Lebensmitteln werden sie sowieso versorgt, ich habe ganz viele Babyflaschen, Schnuller und Windeln gekauft. Und Socken, Unterwäsche, Kleidung. Zahnbürsten, Zahnpasta, Hygieneartikel. Ich habe dafür Geld bei meinen Followern in den sozialen Medien gesammelt.
Ich glaube, die meisten Leute sind nur mit dem losgefahren, was sie gerade am Körper hatten. An vielen Orten wurden die Häuser ja zerstört. Ich kann nicht für jede Familie sprechen, aber viele wissen nicht, wann sie wieder nach Hause zurückkehren können. Alles ist ungewiss.
In einem Kibbuz in der Nähe von Tel Aviv. Hier sind Menschen untergebracht, die aus der Region nahe von Gaza evakuiert wurden. Die meisten haben nur das Nötigste dabei und werden mit Spenden versorgt. © Jenny Havemann
Die Stimmung unter ihnen ist aber eigentlich okay. Die Kinder haben auf dem Spielplatz draußen gespielt und sind im Hotel herumgerannt. Die Eltern haben gegessen, etwas getrunken, sich unterhalten. Es ist nicht jeder komplett für sich. Bedrückende Stimmung herrscht schon auch – aber die Menschen versuchen irgendwie weiterzuleben, auch wenn das nicht einfach ist. Niemand kann zur Arbeit gehen, die Kinder können nicht zur Schule, alle Schulen sind ja zu.
Gleich will ich noch für meine Familie einkaufen, aber ich habe eben schon viele leere Regale in den Supermärkten gesehen. Wasser ist komplett ausverkauft.
Jenny Havemann
Gleich will ich noch für meine eigene Familie einkaufen, aber ich habe eben schon viele leere Regale in den Supermärkten gesehen. Die Leute kommen mit riesigen Tüten bepackt raus. Wasser zum Beispiel ist komplett ausverkauft. Für uns ist das aber nicht so schlimm, wir haben einen Wasserspender zu Hause. Die Regale mit Windeln waren auch fast leer. Doch ich will Sachen besorgen, damit wir notfalls für einige Tage im Bunker versorgt sind. Was heißt Bunker? Unser Bunker ist das sehr große Zimmer meiner beiden Söhne.
Ein vollgeladener Einkaufswagen in einem Supermarkt, in dem auch Jenny Havemann einkauft. Viele Menschen legen sich nun Vorräte zu, viele Regale sind deshalb leer. © Jenny Havemann
Alle neueren Wohnungen haben so ein Zimmer. Es hat vor dem Fenster eine Art Eisenrollo, das man herunterlässt, wenn die Sirenen losgehen, und eine schwere Metalltür, die man verriegelt. Sonst wird das Zimmer ganz normal benutzt, abgesehen davon, dass es kompliziert ist, etwas an die dicken Wände anzubringen. Nur die älteren Häuser haben einen Bunker für alle Bewohner im Keller. Wenn man keinen findet, soll man sich im Treppenhaus auf den Boden legen.
In Tel Aviv ist jetzt wenig los auf den Straßen. Die Leute haben Angst, rauszugehen. Doch in den beiden Kibbuzim kommen ständig Autos und bringen Sachen, die Hilfsbereitschaft ist sehr groß.
Lange Schlangen gibt es auch beim Blutspenden. Mein Mann hat Blutgruppe Null, also die, die für alle infrage kommt. Er hat schon gespendet. Jetzt wurde ihm geschrieben, dass man nicht mehr kommen soll, weil es zu viele Spender gibt. Ich habe das auch in Tel Aviv gesehen, die Leute stehen stundenlang an, um Blut zu spenden.
Fast jeder ist entweder selbst betroffen oder kennt jemanden, der betroffen ist, der Familie verloren hat. Oder jemand in der Familie wurde entführt. In meinem Kreis aber nicht. Wir werden erstmal in Israel bleiben.“
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de