Wann ist ein Mann ein Mann, Herr Altıntaş?: „Für den Anfang reicht es vielleicht, die Klappe zu halten, wenn man nicht gefragt ist“
© Mario Heller/Mario Heller Wann ist ein Mann ein Mann, Herr Altıntaş?: „Für den Anfang reicht es vielleicht, die Klappe zu halten, wenn man nicht gefragt ist“
Männlichkeit lässt sich nie losgelöst von den sozialen Machtverhältnissen begreifen, sagt Fikri Anıl Altıntaş. Der Autor über kulturelle Prägung, Playboys und „kleine Paschas“.
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Herr Altıntaş, in Ihrer autobiografischen Erzählung „Im Morgen wächst ein Birnbaum“ beschäftigen Sie sich mit der Frage, was Männlichkeit heute bedeutet. Zum Einstieg bitte ein bisschen praktische Lebenshilfe: Frauen noch die Tür aufhalten, oder lieber nicht?
Kommt drauf an. Wenn Männer in dieses Gentleman-Ding abrutschen und sagen: Frauen sind per se hilfsbedürftig, haben wir ein Problem. Andererseits sollten Männer schon lernen, nett und zuvorkommend zu sein. Da gibt es eher Nachholbedarf. Und man darf Frauen auch zum Essen einladen. Man muss ja nicht großkotzig einen Batzen Scheine auf den Tisch hauen, sondern kann einfach fragen. Und das nächste Mal macht man es dann vielleicht andersherum.
„Mannsein war für mich lange Zeit das, was mein Vater mir vorlebte“, schreiben Sie. „Ehrlichkeit, Direktheit, vor allem aber keine Schwäche und keine Emotionen zeigen.“
Mein Vater ist früher immer aus dem Raum gegangen, wenn er geweint hat. Mitbekommen habe ich das aber natürlich trotzdem.
Sie beschreiben ihn als den eher dominanten Typ.
Sagen wir so: Meine Mutter entschied, was gekocht wurde, und mein Vater, ob es schmeckte. Ich bin, wie viele meiner Freunde, damit aufgewachsen, dass ein Mann eine Meinung haben und sie auch äußern sollte, dass ein Mann den ersten Schritt machen und handwerkern können muss, dass ein Mann im Sport Bestätigung findet. Mein Vater hat in meinem Alter gerungen, ich habe Fußball gespielt. Es war klar, dass ich meine Schwester abhole und nicht umgekehrt. Und um mich meiner Männlichkeit zu vergewissern, hatte ich früher in der Notiz-App auf meinem Handy eine Liste nur für mich, in der stand, mit wem ich wann rumgemacht hatte.
Und wie definieren Sie Männlichkeit heute?
Männlichkeit ist für mich etwas Komplexes, woran gearbeitet werden muss. Ich will gar nicht sagen, es braucht eine neue oder gesunde Form der Männlichkeit. Es ist eine Suche nach der Möglichkeit, Verletzlichkeit zuzulassen, und nach Verantwortung, die ich als cis Hetero-Mann in dieser Gesellschaft habe. Mann zu sein, ist für mich heute gleichbedeutend mit einer gesellschaftlichen Verantwortung und einem Privileg.
Verletzlichkeit und Zärtlichkeit sind nicht das, was verhandelt wird, wenn wir über Männlichkeit sprechen.
Fikri Anıl Altıntaş
Was heißt das jetzt konkret?
Für den Anfang reicht es vielleicht schon, auch mal die Klappe zu halten, wenn man nicht gefragt ist, und seine Bequemlichkeit abzulegen, was zum Beispiel Care-Arbeit angeht. Ansonsten ist es sicher nicht verkehrt, auf Demos zu gehen und feministische Literatur zu lesen, solidarisch zu sein.
Wann und warum haben Sie denn angefangen, das, was Ihr Vater Ihnen vorlebte, infrage zu stellen?
Die sozial erwünschte Antwort wäre: Natürlich habe ich immer eine Form von Ambivalenz verspürt. Wenn es um Mutproben ging, war mir das oft zu doof. Ich erinnere mich an eine Situation bei uns in Wetzlar auf dem Heimweg, wo ein paar Kumpels in einen Garten eingebrochen sind, nur um einzubrechen. Oder vor alten Leuten im Schwimmbad Bauchplatscher machen, um sie zu ärgern. Das fand ich immer komisch.
Und was ist die ehrliche Antwort?
Dass Freundinnen mich konfrontiert und auf Fehlverhalten aufmerksam gemacht haben. Auf einer Party zum Beispiel: Da hatte ich einmal die Signale einer Frau überinterpretiert und sie heftig angeflirtet. Die sagte dann: Anıl, das war überhaupt nicht cool, komm mal ein bisschen runter.
In einer Umfrage der Dating-App Bumble aus dem vergangenen Jahr gaben 54 Prozent der befragten Männer an, dass sie Probleme haben, eine Balance zu finden zwischen Verletzlichkeit und der Erwartung, ein starker Mann zu sein. Die scheint es also immer noch zu geben.
Natürlich. Verletzlichkeit und Zärtlichkeit sind nicht das, was verhandelt wird, wenn wir über Männlichkeit sprechen.
Fikri Anıl Altıntaş im Gespräch mit Katja Demirci und Moritz Honert. © Mario Heller/Mario Heller
Grönemeyer sang doch schon 1984 „Außen hart und innen ganz weich“, und auch Sie arbeiten bei Vorträgen mit Kinderfotos, auf denen Sie mit Ihrem Vater kuscheln.
Ich gebe zu, dass mir das im Laufe meiner Sozialisation total abhandengekommen ist. Das ist mir erst durch Gespräche mit meinen Eltern und meinen Schwestern wieder klar geworden, dass es diese Zärtlichkeit immer schon gab. Ich hatte unterbewusst das Bild, das türkisch-muslimischen Väter zugeschrieben wird, selbst übernommen. Ich dachte, mein Vater kann nicht anders, weil er in einem Dorf in Anatolien aufgewachsen ist.
Sie schreiben, Sie seien trotz Deutschland zu dem Mann geworden, der Sie sind. Was für Männer sind Ihnen hier begegnet?
Was ich damit meine, ist, dass meine Männlichkeit nie losgelöst ist von den sozialen Machtverhältnissen. Mein Buch ist in dem Sinne auch eine Gegenrede gegen diese Vereinfachung und Vereinnahmung von einer weißen Mehrheitsgesellschaft, wie ich als türkisch-muslimisch Person sein soll. Ich nehme mir das Recht auf Komplexität. Ich bin nicht so, wie ihr denkt.
Wie denkt die weiße Mehrheitsgesellschaft denn, wie Sie sind?
„Der Südländer“ gilt als Checker, Playboy, jemand, der leidenschaftlicher ist als alle weißen, deutschen Typen. Beim Sex sowieso, aber auch beim Fußball. Da war ich immer das „kreative Element“ in der Mannschaft, während die Deutschen für Ruhe und Ordnung gesorgt haben. Uns wird aggressives Verhalten zugeschrieben.
Nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht in Neukölln sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz: „Und dann wollen sie diese Kinder zur Ordnung rufen und die Folge ist, dass die Väter in den Schulen erscheinen und sich das verbitten. Insbesondere, wenn es sich um Lehrerinnen handelt, dass sie ihre Söhne, die kleinen Paschas, da mal etwas zurechtweisen.“ Wie haben Sie die Debatte wahrgenommen?
Ich bin kein Vater, ich bin nicht in Neukölln aufgewachsen, ich kenne mich da nicht aus. Friedrich Merz ist allerdings auch kein Pädagoge. Viele Lehrerinnen haben ihm widersprochen. Kurzum: Es ist Bullshit. Ihm geht es nicht darum, sich ernsthaft mit Männlichkeit auseinanderzusetzen, sondern Menschen wie mich zu diskreditieren und rassistisch zu framen. Auch Merz’ Parteikollege Jens Spahn hat gesagt, dass es eine kulturell vermittelte toxische Männlichkeit gibt. Auch das stimmt nicht.
Das sagt nicht nur die CDU, auch die „taz“ schrieb: „Faktoren wie kulturelle Prägungen oder die Sozialisation durch Herkunft sind eine Tabuzone in Deutschland, eben weil es leicht ins Ressentiment abrutschen kann. Das ist bedauerlich, denn die Migrationsforschung ist schon längst viel weiter. Natürlich prägt Herkunft.“
Ich sage nicht, dass es keine Schwierigkeiten mit jungen türkischen und muslimischen Männern gibt. Es gibt sie aber mit allen Männern. Wir müssen toxische Männlichkeit in einem größeren Kontext diskutieren. Es gibt partnerschaftliche Gewalt, Gewalt von Rechtsextremen. Und diese kulturelle Prägung, von der alle sprechen, ist ein Komplex von unterschiedlichen Machtverhältnissen und unterschiedlichen Konstellationen. Wenn von kultureller Prägung gesprochen wird, redet auch niemand von einer vermeintlich kulturellen Prägung durch eine deutsche sexistische Gesellschaft. Deutschland ist ebenfalls eine patriarchal geprägte Kultur. Auch weiße Männer haben in dieser Gesellschaft ein Problem mit Sexismus, aber darauf kommt niemand, wenn sich alle immer auf Gewalt durch muslimisch gelesene Männer konzentrieren.
Mehr als 67 Prozent der Türken in Deutschland haben in der Stichwahl Ende Mai Recep Tayyip Erdoğans Partei AKP gewählt. Können Sie uns erklären, warum?
Was hat mein Buch mit der AKP und Erdoğan zu tun?
Recep Tayyip Erdogan gewann Anfang Juni zum dritten Mal das Amt als türkischer Präsident. © AFP/ADEM ALTAN
Viele begründeten ihre Wahlentscheidung mit den Worten: Er ist ein starker Mann. Erdogan selbst sieht sich als Vater des Volkes. Männlichkeit spielt offenbar eine Rolle.
Ich unterstütze in keinster Weise Erdoğan und seine Politik. Das vorweg. Was Erdoğan den Menschen durch seine Rhetorik verspricht, ist Orientierung, eine Form von Sicherheit und Sichtbarkeit. Bei emigrierten Türk*innen, denen in Deutschland politische Teilhabe verwehrt bleibt, die Rassismus erfahren oder sehen, dass es hier immer wieder rassistisch motivierte Morde gibt, verfängt das. Wenn man die ganze Zeit abgelehnt wird, dann will man irgendwann nicht mehr mitmachen. Alle tun nun überrascht, weil sie denken, dass Deutschland sich total viel Mühe gegeben hätte, diese Menschen anzusprechen und ihnen Chancen zu ermöglichen. Aber das ist nicht passiert. Jetzt zu fragen: Sind diese Menschen eine Gefahr für die Demokratie? Das finde ich übertrieben. Diese Frage stellt niemand, wenn in der Bundeswehr oder Polizei rassistische Strukturen wachsen.
„Im Morgen wächst ein Birnbaum“ von Fikri Anıl Altıntaş erschien im Verlag btb. © btb
Als Sie mit 16 Jahren Schulsprecher wurden, beglückwünschte Sie eine Lehrerin mit den Worten: „Das ist gut für die Integration.“ Was bedeutet der Begriff Ihnen?
Für mich ist der Begriff Integration gleichbedeutend mit einer Verletzung. Wir kennen diese Begriffe der „Parallelgesellschaften“, der sogenannten „Brennpunkte“. Damit war stets ein Verlangen verbunden, Menschen einzuordnen und zu disziplinieren. Für mich hat Integration nie etwas auf Augenhöhe bedeutet, sondern es war immer eine Forderung. Nach 50 Jahren rassistischer Gewalt immer noch zu sagen, es ist an der Zeit, dass ihr euch in diese Gesellschaft einfügt, das ist für mich ein großer politischer Widerspruch.
Was haben Sie der Lehrerin also geantwortet?
Ich habe Danke gesagt. Als ich aufs Gymnasium kam, habe ich mich angestrengt, genau dieser integrierte Typ zu sein. Ich wollte alles Türkische ablegen. Ich wollte all das sein, was meine weißen Freunde waren.
Nach 50 Jahren rassistischer Gewalt immer noch zu sagen, es ist an der Zeit, dass ihr euch in diese Gesellschaft einfügt, das ist für mich ein großer politischer Widerspruch.
Fikri Anıl Altıntaş
Man hört oft von ehemaligen Gastarbeitern, dass sie bemüht waren, in Deutschland nicht aufzufallen. Auch Ihre Eltern beschreiben Sie so. Wann haben Sie entschieden, dass Sie es anders machen wollen?
Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich merkte: Egal wie sehr ich mir meine Brust rasiere, ich werde nie ein Lukas sein. Je weniger ich versuche, mich anzupassen, umso besser ging es mir. Also probierte ich es mit dem Gegenteil, klemmte mir mit 14 einen Blingbling-Ohrring an, hörte Hip-Hop, trug Baggys, spielte Basketball und versuchte so, meine eigene Identität zu finden.
Heute tragen Sie einen Schnauzbart. Wie Ihr Vater. Ist das ironisch gemeint?
Den trage ich, weil mir gesagt wurde, dass er mir steht. Aber Scherz beiseite. Früher habe ich mich das tatsächlich nicht getraut, weil ich nicht aussehen wollte, wie die Leute sich einen Türken vorstellen. Heute ist das für mich Teil einer politischen Aneignung, zu sagen: Egal wie ihr mich seht, ich trage das, weil es zu mir gehört. Das ist auch eine Form der Selbstermächtigung.
Neben Ihrer Arbeit als Journalist und Autor veranstalten Sie Workshops zum Thema Männlichkeit. Was bringen Sie den Leuten da bei?
Ein Titel eines Workshops war zum Beispiel „Mitspieler statt Gegenspieler“. Wir müssen verstehen, dass wir beim Kampf gegen Geschlechtergerechtigkeit nicht Gegenspieler sind, sondern alle gemeinsam im Boot sitzen. Ich versuche besonders cis Männer dahinzubewegen, eine gewisse Verletzlichkeit zu kultivieren. Alle Männer haben irgendeine Form von Trauma oder irgendeine Problematik in der Beziehung zu ihrem Vater. Das kann, das ist meine Erfahrung, ein Hebel dafür sein, um in eine Auseinandersetzung mit Männlichkeit einzusteigen und von da aus idealerweise feministischer zu leben.
Wie sollte das aussehen?
Mein Vater sagte mir, er habe sich verändert, weil ich mich verändert habe. Er sagte: Ich merkte, es passiert bei uns was im Haus, weil du anfängst aufzustehen und Geschirr einzuräumen und abzuspülen. Das ist ihm im Gedächtnis geblieben. Aber wir müssen größer denken. Es bräuchte eine nationale Strategie zur Durchsetzung der Istanbuler Konvention, um Gewalt gegen Frauen einzudämmen. Es bräuchte flächendeckende pädagogische Angebote, durch die das Thema Geschlechtergerechtigkeit auch in die Schulen getragen wird. Wir müssten wie Spanien oder Großbritannien versuchen, Gendermarketing abzuschaffen, weil das genau zu diesen problematischen Rollenbildern führt.
Aber führt das, was Sie vorschlagen, dann wirklich zu einer Definition von Männlichkeit und nicht eher zu einer Vereinheitlichung oder Auflösung der Rollenbilder?
Absolut! Diese Männlichkeits- und Weiblichkeitsdebatten entstehen ja nur, weil wir eine binäre Logik in unserem System haben. Für mich geht es in der Utopie darum, dass wir diese auflösen, dass wir gar nicht mehr die Notwendigkeit verspüren, Männlichkeit zu leben und so was wie Männlichkeit überhaupt zu haben, sondern dass wir frei von Rollenzwängen sind.
Herr Altıntaş, was sagt Ihr Vater eigentlich zu Ihrem Buch, war es für ihn schwierig, Ihre Offenheit zu akzeptieren?
Ich habe ihn natürlich schon ordentlich genervt damit. Aber heute ist er vor allem stolz, weil sein Sohn ein Buch geschrieben hat. Er sagt, es sei ihm auch egal, wie positiv oder negativ ich ihn darstelle. Wichtig sei, dass alle unsere Wahrheiten in irgendeiner Form auch mal sichtbar werden.
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de