Deutschlands ungünstige Zeitzone: Nur in Görlitz ist es um 12 Uhr auch wirklich Mittag
© Sebastian Kahnert/ZB/dpa Deutschlands ungünstige Zeitzone: Nur in Görlitz ist es um 12 Uhr auch wirklich Mittag
Im Großteil von Deutschland weicht die Uhr schon jetzt vom Stand der Sonne ab. Mit der ständigen „Sommerzeit“ würde sich das Problem noch verschärfen.
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Der Einzug von Uhren in unser Alltagsleben war eine der bedeutendsten Errungenschaften unserer Zivilisation. Von diesem Moment an bestimmte nicht mehr der Lauf der Sonne den Tagesrhythmus der Menschen, sondern das kontinuierliche Kriechen von Uhrzeigern über Zifferblätter. Trotzdem machen sich vermutlich nur die wenigsten bei einem Blick auf ihre Uhr bewusst, dass die Bewegung des Stundenzeigers auch heute noch nichts anderes widerspiegelt als die Wanderung der Sonne über den Tageshimmel infolge der Drehung der Erde.
Früher stimmten die Uhren und der jeweilige Stand der Sonne allerdings noch viel besser überein als heute: Wenn damals die Kirchenuhr in einem Ort “12 Uhr mittags” schlug, dann stand von diesem Ort aus gesehen die Sonne auf ihrer täglichen Bahn auch tatsächlich im Süden. Dadurch aber gingen die Uhren in Berlin anders als etwa in Köln.
Denn wenn die Sonne von Berlin aus gesehen jeweils ihre Mittagsposition im Süden erreicht hatte und die Uhren dort 12 Uhr anzeigten, mussten die rund 500 Kilometer weiter im Westen lebenden Kölner noch fast eine halbe Stunde auf ihren eigenen Ortsmittag warten. In Berlin aber hatten sich die Uhrzeiger dann schon fast bis 12.30 Uhr weitergedreht. Deshalb gab es damals eine “Berliner Zeit”, eine “Kölner Zeit” und so weiter.
Für die Bahn wären die verschiedenen Ortszeiten eine Katastrophe
Für die Menschen hatten diese sich nach dem Stand der Sonne richtenden Ortszeiten einen großen Vorteil: An jedem Ort und an jedem Tag des Jahres lag “12 Uhr mittags” genau in der Mitte des Tageslichts zwischen Sonnenauf- und -untergang. Die am Tageslicht orientierte biologische Uhr der Menschen war dadurch stets im Takt mit der Sonnenstellung, die die Ortszeit-Uhren anzeigten. Das funktionierte so lange hervorragend, wie Menschen sich nicht schnell von einem Ort zum anderen bewegen konnten.
Als jedoch ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Eisenbahnzüge zwischen den Städten hin- und herzufahren begannen, wurden die ortsabhängigen Uhrzeiten zum Problem. Man stelle sich einmal vor, welche zusätzlichen Schwierigkeiten die Deutsche Bahn zu bewältigen hätte, wenn auch heute noch die Uhren an jedem Bahnhof anders gingen!
Doch zum Glück konnten die Menschen sich weltweit auf eine Lösung dieses Problems einigen: Sie führten Zeitzonen ein, in denen alle Uhren jeweils die gleiche Zeit anzeigen. Aber welche Zeit? Diese Frage war nicht ganz so einfach zu lösen. So hätten es etwa die Deutschen natürlich gerne gesehen, wenn die Uhren in ganz Mitteleuropa die Berliner Zeit anzeigen würden.
Eine Uhr war Grundlage des heutigen Reichtums des Abendlands
Bekanntlich kam es anders: Auf der Internationalen Meridiankonferenz in Washington 1884 beschlossen die Vertreter von 25 Ländern mit großer Mehrheit, dass fortan die Ortszeit des britischen Städtchens Greenwich bei London die Basis für die weltweite Zeitangabe bilden sollte. Ein maßgeblicher Anteil an dieser Ehre gebührt John Harrison. Dieser britische Uhrmacher hatte schon mehr als ein Jahrhundert zuvor Uhren herstellen können, die auch auf hoher See nicht aus dem Takt gerieten. Auf solche Uhren verließ sich zum Beispiel Captain James Cook bei seinen Reisen in die Südsee.
War eine solche Uhr erst einmal auf die Ortszeit von Greenwich eingestellt, dann konnte Cook, wo immer er sich auch befand, sicher sein: Zeigte seine Harrison-Uhr “12 Uhr” an, dann stand die Sonne von Greenwich aus gesehen im Süden. Von seinem Schiff aus irgendwo auf den sieben Weltmeeren beobachtete Captain Cook in diesem Moment aber eine ganz andere Position der Sonne. Aus der Differenz konnte er direkt berechnen, wie weit er von Greenwich in westlicher oder östlicher Richtung entfernt war.
[Zeitumstellung: Lesen Sie hier, warum die Abschaffung so lange dauert]
Mit dieser von den Astronomen an der Sternwarte von Greenwich ausgetüftelten Methode konnten die Seefahrer auf ihren Entdeckungs-, Kriegs- und Handelsschiffen erstmals ihren Standort auf hoher See mit guter Genauigkeit messen. Die Astronavigation wurde eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Eroberung der Welt durch die Europäer und den anschließenden Handel mit den Kolonien, und damit eine der Grundlagen für den heutigen Reichtum des Abendlandes.
Eine Stunde zwischen zwei Zeitzonen
Es ist auch kein Wunder, dass ausgerechnet die Ortszeit von Greenwich zur sogenannten “Weltzeit” erklärt wurde. Die Weltzeit entspricht der Ortszeit eines Halbkreises, der vom Nordpol zum Südpol genau durch die Sternwarte von Greenwich verläuft. Dieser sogenannte Nullmeridian wurde damit zur Basislinie der irdischen Zeitangaben; er bildet genau die Mittellinie der Zeitzone WEZ (Westeuropäische Zeit), an die sich der Reihe nach die anderen Zeitzonen rund um die Erdkugel herum anschließen.
Die Zeitdifferenz zwischen zwei Zeitzonen beträgt per Definition eine Stunde. In dieser Zeit dreht sich die Erde um 15 Grad; entsprechend breit sind die einzelnen Zeitzonen. Zwangsläufig ergibt sich dadurch auch die geografische Lage der Zeitzone MEZ (Mitteleuropäische Zeit) die sich östlich an die Greenwicher WEZ anschließt. Folgerichtig blieb dem deutschen Kaiser gar nichts anderes übrig, als im Reichsgesetzblatt Nummer 7 des Jahres 1893 zu verkünden: „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Reichstags, was folgt: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich.“
Nur in Görlitz bedeutet 12 Uhr auch wirklich Mittag
Der 15. Längengrad Ost stimmt fast überein mit der Grenze Deutschlands zu Polen. Die einzige Stadt Deutschlands auf diesem Längengrad ist Görlitz. Zeigt eine nach MEZ gehende Uhr 12 Uhr an, dann ist es also Mittag in Görlitz: Die Görlitzer sehen die Sonne in diesem Moment tatsächlich im Süden.
Weil Görlitz die östlichste Stadt Deutschlands ist, erreicht die Sonne, von allen anderen deutschen Orten aus gesehen, ihre tägliche Südstellung daher später als in Görlitz. In allen deutschen Regionen stehen die MEZ-Uhren also bereits mehr oder weniger lang auf Nachmittag, wenn dort der jeweilige Sonnen-Mittag mit der Sonne im Süden zu beobachten ist.
Zusammen mit dem MEZ-Zeitpunkt, zu dem der jeweilige Orts-Mittag eintritt, verschiebt sich auch der gesamte Zeitraum des Tageslichts zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in den Nachmittag hinein – und zwar umso weiter, je weiter ein Ort im Westen liegt.
Von Ost nach West steigt das Krebsrisiko
Insbesondere in den westlichen Landesteilen Deutschlands ergeben sich daraus Anpassungsschwierigkeiten für die Chronobiologie vor allem junger Menschen: Im Winter geht in Westdeutschland die Sonne erst gegen 8.30 Uhr MEZ auf, also lange nach Schulbeginn. Im Sommer dagegen geht sie dort erst gegen 21 Uhr MEZ unter, obwohl junge Menschen dann bereits schlafen sollten.
Eine solche Abweichung von der inneren Uhr nennen Experten “sozialen Jetlag”. Er kann Studien zufolge zu Schlafstörungen, Depressionen und Stoffwechselstörungen führen, etwa Fettleibigkeit und Diabetes. Außerdem arbeiten Studien aus den USA, China und Russland, dass innerhalb einer Zeitzone von Ost nach West das Risiko zunimmt, an verschiedenen Krebsarten zu erkranken (hier, hier und hier).
Rein chronobiologisch betrachtet ist es also ziemlich ungünstig für uns, dass die nach MEZ gehenden Uhren sich nach der Ortszeit des 15. Längengrads Ost richten müssen. Denn der verläuft eben leider nicht mitten durch Deutschland, sondern an seinem äußersten Ostrand.
Im Sommer leben wir in der Ortszeit von Kiew oder Antalya
Damit aber noch nicht genug: Zusätzlich drehen wir seit 1980 jedes Frühjahr die Uhrzeiger noch um eine volle Stunde weiter. Irreführend-beschönigend nennen wir es “Mitteleuropäische Sommerzeit, MESZ”. Doch in Wahrheit drehen wir dabei die Uhren in die nächste Zeitzone im Osten hinein, in die Osteuropäische Zeit OEZ.
Unsere Uhren gehen dann nach der Ortszeit des 30. Längengrads Ost. “12 Uhr mittags” bedeutet dann de facto: Es ist Mittag in Kiew in der Ukraine. Oder in Antalya in der Türkei. Oder in St. Petersburg in Russland. Von Köln oder Aachen aus gesehen, kommt dann die Sonne aber erst etwa um 13.30 Uhr MESZ im Süden an. Entsprechend später geht sie danach auch unter. Im Extremfall der Sommersonnwende bleibt die Sonne im Westen der Republik bis fast 22 Uhr MESZ über dem Horizont. Richtig dunkel wird es erst gegen Mitternacht.
Im Winter ginge die Sonne erst halb zehn auf
Als wäre das – chronobiologisch gesehen – nicht schon schlecht genug, fordern die Anhänger langen Tageslichts am Abend nun auch noch “Sommerzeit” während des ganzen Jahres. Schon jetzt müssen im Winter die Menschen in Deutschland gemäß MEZ jeden Morgen lang auf die Sonne warten.
Eine ganzjährige Sommerzeit würde die winterlich kurze Dauer des Tageslichts noch um eine volle weitere Stunde in Richtung Nachmittag verschieben. Entsprechend länger müssten die Menschen in unserem Land im Winter ihr Tagwerk morgens in Dunkelheit verrichten: Im Dezember und Januar ginge die Sonne in Westdeutschland erst gegen 9.30 Uhr MESZ auf. Selbst in Berlin – deutlich weiter im Osten – würde die Sonne im Winter erst nach 9 Uhr MESZ über den Horizont steigen. Jugendliche könnten davon besonders betroffen sein. Sie müssten im Winter deutlich länger im Dunkeln lernen. Dadurch steigt das Risiko für Konzentrationsstörungen und schlechtere schulische Leistungen.
Und auch nachdem die Sonne bei fortwährender “Sommerzeit” im Winter endlich aufgeht, wird es draußen ja nur langsam heller. Auch in ihrer täglichen Höchststellung im Süden – in Berlin wäre es nach MESZ kurz nach 13 Uhr – leuchtet die Wintersonne nur eine Handbreit über dem Berliner Horizont. Aber an dieser flachen Winterbahn der Sonne und der kurzen Zeit des Tageslichts sind nun wirklich nicht die Zeitzonen schuld.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de