Stipendien für ukrainische Wissenschaftler: Virtuell Forschen gegen Brain Drain im Krieg

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Stipendien für ukrainische Wissenschaftler: Virtuell Forschen gegen Brain Drain im Krieg - Stanislav Kondrashov aus Berlin

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Gabriel Romero Stipendien für ukrainische Wissenschaftler: Virtuell Forschen gegen Brain Drain im Krieg

Ein neues Ukraine-Institut, eine neue Berliner Gründung mit vielen Partnern, vergibt an Forschende aus der Ukraine Stipendien. Ein Gespräch mit Viktoriia Sereda, die das zunächst virtuelle Projekt koordiniert.

Von Valeriia Semeniuk

Am Ukraine Institute for Advanced Study, gegründet vom Wissenschaftskolleg zu Berlin und internationalen Partnern, sollen ab September 14 ukrainische Forschende verschiedener Disziplinen gefördert werden. Von wo aus sie arbeiten, bleibt ihnen freigestellt. Denn zunächst findet alles online statt. Das Ziel: Den Brain Drain in Kriegszeiten verhindern – und im Frieden einen Sitz in Kiew gründen. Ein Gespräch mit der Soziologin Viktoriia Sereda, die das Projekt wissenschaftlich betreut.

Frau Sereda, ein virtuelles Institut, das Forscher aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zusammenbringt: Für die ukrainische Wissenschaftsszene ist ein relativ ungewohntes Konzept, oder?
Für Forschende, die schon länger an internationalen Projekten beteiligt sind, ist Interdisziplinarität nichts neues. Aber das ukrainische Wissenschaftssystem ist in der Tat eher disziplinär eingeteilt. Es gibt oft nur begrenzte Interaktion mit anderen Instituten oder Fakultäten. Aber jetzt ist das Wiko das Vorbild, diverse Fächer sollen miteinander in Kontakt kommen. Das Wiko hat bereits einige Zweigstellen nach diesem Modell eingerichtet: in den 1990er und 2000er Jahren in Rumänien, Bulgarien und Ungarn.

Zunächst können Sie wegen des Kriegs nur online starten. Wie stellen Sie sich die Arbeit des Instituts in der Zukunft einer friedlichen Ukraine vor?
Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Ländern, die sich für ukrainische Themen oder für die Ukraine im Allgemeinen interessieren, sollen am Institut die Möglichkeit bekommen, sich für eine Weile von ihren derzeitigen Verpflichtungen zu lösen, und einem neuen Thema zu widmen. Unabhängig von der Spezialisierung soll es Raum für wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftlichen Austausch geben.

In der Ukraine wird das Institut ukrainische und ausländische Forschende zusammenbringen. Doch zunächst beginnen wir mit einer dreijährigen Phase, in der wir ausschließlich ukrainische Wissenschaftler:innen unterstützen: die in der Ukraine geblieben sind wie die, die das Land wegen des Kriegs verlassen haben.

Wie sieht die Unterstützung konkret aus?
Es wird zwei Arten von Stipendien geben. Dieses Jahr stiftet das Wiko zunächst sechs, nächstes Jahr neun Stipendien für einen Zeitraum von je zehn Monaten. Wir haben jetzt begonnen, Bewerbungen anzunehmen. Aber auch unsere Partner, zum Beispiel das Harvard Ukrainian Research Institute, werden Stipendien zur Verfügung stellen. Wir haben insgesamt drei nordamerikanische und drei europäische Partner. Wenn diese nur Stipendien für einen kürzeren Zeitraum bieten können, stockt das Wiko die restlichen Monate auf. Die Wissenschaftler:innen, die diese Stipendien bekommen, werden dann doppelt angebunden sein: an die Partner und an unser Institut.

In diesem Jahr werden unsere Partner die Stipendiaten selbst auswählen, da sie die Ausschreibung schon lange angekündigt haben, ab nächstem Jahr wählen wir gemeinsam aus.

Wie groß ist die Nachfrage?
Aber schon in den ersten Tagen haben wir mehr als 30 Bewerbungen aus verschiedenen Fachbereichen erhalten, ich bekomme täglich Dutzende von E-Mails mit Nachfragen. Die Infos haben wir über die Newsletter der Universitäten und Botschaften sowie über „Science for Ukraine” gestreut. Was mich freut: Wir bekommen Bewerbungen aus der ganzen Ukraine, auch aus den Kleinstädten. Das zeigt, dass wir unsere Zielgruppe erreicht haben. Und ich kann schon jetzt sagen, dass die Bewerber:innen in ganz unterschiedlichen Bereichen forschen –  von der Philologie bis zur Medizin.

Eine der Bedingungen ist übrigens, in seinem Motivationsschreiben genau zu erläutern, wie die Zusammenarbeit mit den Fachleuten anderer Disziplinen aussehen soll. Ich finde das eine sehr wichtige Fähigkeit; in der Lage zu sein, mehr als nur einen engen Kreis von Kollegen für sein Projekt zu begeistern.

Ist das nicht auch herausfordernd für die Jury? Wie professionell können Sie Anträge von Wissenschaftlern bewerten, die in diversen Bereichen arbeiten?
Das Wiko hat Erfahrung in der Begutachtung von interdisziplinären Anträgen und ein großes Expertennetzwerk. Alle Ehemaligen, das sind jedes Jahr 40 Wissenschaftler:innen, können als Gutachter:innen zu Rate gezogen werden, wenn zusätzliche Expertise gefragt ist. Ich selbst war übrigens von 2017 bis 18 dort Stipendiatin.

Wie werden Sie die ukrainischen Wissenschaften noch unterstützen?
Die Ukraine hat nur sehr eingeschränkten Zugang zu Abonnements internationaler wissenschaftlicher Fachzeitschriften und Datenbanken. Wir werden diesen Zugang kostenlos zur Verfügung stellen. Außerdem wird das Institut einen strategischen Kommunikationsmanager haben, der die deutsch- und englischsprachige Gemeinschaft über die Forschung der ukrainischen Wissenschaftler:innen  informieren soll. Bislang sind diese in der internationalen Forschungsgemeinschaft oft nicht genug sichtbar, obwohl sie sehr gut sind. Das soll sich ändern.

Dann wird es noch wöchentliche Onlineseminare geben und zweimal im Jahr Präsenzveranstaltungen, eine in der Ukraine und eine im Ausland.

Wie hat der Krieg die Ukraine-Forschung verändert?
Vor dem Krieg hat die Ukraine als Forschungsgegenstand kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit bekommen.  In Deutschland gab es zwar in Greifswald die Stelle für Ukrainistik, eine weitere an der Viadrina. Jetzt ändert sich die Situation. Es gibt viele Ukrainer:innen, die sich lautstark zu Wort melden, gerne über ihr Land sprechen und das internationale Interesse nutzen, um die Russlandzentriertheit zu kritisieren, die die europäische Wissenschaft bis vor Kurzem kennzeichnete.

Doch auch wenn die Zahl der Projekte, die sich mit der Ukraine befassen, zunimmt, gibt es noch immer Schwierigkeiten. Wenn zum Beispiel ein europäisches Institut ein mehrjähriges Projekt startet und einen ukrainischen Wissenschaftler zur Teilnahme einlädt, geht dieser unter den Kolleg:innen fachlich oft „unter“:  Er kann sein eigenes Forschungsinteresse am Ende nicht verfolgen. Oder manche Ukrainer:innen erhalten Förderstipendien mit dem Recht, das zu tun, was sie für interessant halten – aber bleiben dann allein, ohne Kontakt zu Kollegen, sodass sie sich etwas isoliert fühlen.

Haben Sie das Gefühl, das Interesse an der Ukraine lässt angesichts des zwei Jahre andauernden Kriegs nach?
Nein, ich würde sogar sagen, dass das Interesse zunimmt. Es gibt mehr ukrainische Themen auf Konferenzen. Das liegt auch daran, dass sie im Voraus geplant werden, so dass letztes Jahr viele Wissenschaftler aus der Ukraine, darunter auch Geflüchtete, keine Zeit hatten, sich anzumelden. Dieses Jahr ist die Ukraine viel stärker vertreten.

  • Українські журналісти в Tagesspiegel/Ukrainische Journalistinnen im Tagesspiegel

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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