Schnorcheln, lokaler Wein und Meeresfrüchte in Sant’Andrea : Auszeit im wohl bestgehüteten Geheimnis der Insel Elba
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Sant’Andrea strahlt durch Bescheidenheit. Große Hotels und Entertainment gibt es hier nicht – dafür aber „alles, was es für ein gutes Leben braucht“.
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Wie man hört, hört man nichts. Erst als Andrea Romolli den Motor seines gelben Schlauchbootes anwirft, zerreißt das Brummen die Stille vor der Küste von Sant‘Andrea. Für den Tauchlehrer gibt es keinen besseren Ort als das Dorf im Nordwesten der italienischen Insel Elba, wie er sagt.
Dabei hat Romolli sogar schon auf den Malediven gelebt. „Dort habe ich allerdings die gute Lasagne vermisst“, sagt der drahtige Florentiner und lacht. Gutes Essen, köstlicher Wein, Fischschwärme, Seesterne und Seepferdchen, die sich an den Riffen der Insel tummeln: Das ist alles, was er für ein gutes Leben braucht.
Seepferdchen sind an diesem Oktobermorgen beim Schnorcheln zwischen den Formiche della Zanca, italienisch für „die Ameisen von Zanca“, weil die Felsen aussehen wie eine Ameisenspur, und der Grotta del Papa, der „Höhle des Papstes“, keine zu sehen. Aber es gibt sie hier draußen, wirklich, versichert Romolli. Jetzt gleiten nur Fischschwärme durch das kristallklare Wasser, vorbei an eierschalenfarbenen Granitfelsen.
Tiefe und Oberfläche verschwimmen
Die Stille, die einen schon über Wasser alles vergessen lässt, ist hier unter Wasser noch eindringlicher. Die Sonnenstrahlen brechen von oben durch, verteilen sich in alle Richtungen, die Grenze zwischen Tiefe und Oberfläche verschwindet.
Und auftauchen!
Elba – shore in San Andrea
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Auf dem Rückweg nach Sant’Andrea steht Romolli in seinem gefleckten Taucheranzug am Steuer seines Schlauchbootes und blickt auf die Granitfelsen, die die Küste des Ortes zieren. Für seine Lebensgefährtin Anna, die bei 24 Grad eine graue Wollmütze trägt und ihn auf seinen Tauch- und Schnorchelausflügen begleitet, ist ihr Zuhause auf Elba vor allem beschaulich: „Sant‘Andrea wächst nur Stück für Stück“, sagt sie. „Und der Tourismus liegt allein in den Händen der Einheimischen.“ Das mache den Ort so besonders.
Wie das 188-Einwohner-Dorf zum wohl bestgehüteten Urlaubsgeheimnis der Insel wurde, lässt sich anhand der Geschichten hinter den Hotels von Capo Sant’Andrea nachvollziehen.
Am eindrucksvollsten ist womöglich die des Hoteliers Loriano Anselmi. Der 75-Jährige, der an eine sanfte, in die Jahre gekommene Version des TV-Helden Magnum erinnert, führt sein Hotel Gallo Nero in zweiter Generation. Schon seine Großeltern lebten auf demselben Grundstück an einer Serpentinenstraße im Hinterland von Sant’Andrea. Sie waren keine Hoteliers, sondern Bauern, wie viele andere im Dorf.
Winzer, keine Hoteliers
Anselmis Familie baute, wie die meisten Bewohner der Gegend zu jener Zeit, Rot- und Weißwein zum Eigenverbrauch an. Was sie selbst nicht tranken, verschifften sie mit Segelschiffen ins 200 Kilometer nördlich an der ligurischen Küste gelegene Genua.
Winzer und Hotelbesitzer Lorenzo Anselmi empfängt heute die Kinder und Kindeskinder seiner ersten Gäste.
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Auch 100 Jahre später ist Anselmi noch Winzer, sogar die alte Traubenpresse nutzt er noch für die rund 600 Liter Wein, die er pro Jahr produziert. Auf der Terrasse erzählt Anselmi, Hornbrille und grauer Schnurrbart, während er sich Sangiovese-Rotwein einschenkt, dass Sant‘Andrea sogar relativ früh als Reiseziel entdeckt worden sei. Schon 1952 hätten seine Eltern das Hotel gegründet, sagt Anselmi, das er heute führt. Das war auch das Ende der großen Weinwirtschaft: Sant’Andrea lebte nun fast gänzlich vom Tourismus.
Anselmi erinnert sich noch an die ersten Gäste. Auch wenn er damals höchstens vier Jahre alt gewesen sein kann, aber in Sant’Andrea werden wohl nicht nur Hotels, sondern auch Geschichten über Generationen weitergegeben. Deutsche Filmemacher aus der Nähe von München sollen es gewesen sein, die Sant’Andrea zum Urlaubsort kürten.
Wir in Sant’Andrea wollen etwas vom Leben haben.
Lorenzo Anselmi, 75, Hotelier und Winzer in Sant’Andrea
Vielleicht standen die ersten deutschen Gäste in den 1950er Jahren über den Weinbergen der Familie Anselmi, während die Sonne die Bucht in leuchtende Farben tauchte, so wie es heute die Besucher im Oktober tun. Die Touristen mit Pioniergeist für abgelegene Urlaubsorte konnten damals nicht in besonders luxuriösen Unterkünften wohnen. „Wir waren, wie die meisten in Sant’Andrea, nur Winzer – keine Hoteliers. Zusätzliche Zimmer gab es nicht“, erzählt Anselmi.
Wer mal da war, kommt immer wieder
Doch die Elbaner konnten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und quartierten die Neuankömmlinge kurzerhand in ihren eigenen Betten ein. Sie schenkten ihnen den hauseigenen Wein aus, und aus den Deutschen, die ihre Weingelage abhielten, wurden treue Stammgäste.
„Jetzt sind es ihre Kinder und Kindeskinder, die Sant’Andrea von klein auf kennen und mit ihren Familien hierherkommen“, sagt Anselmi in der Abenddämmerung.
Man baut in Breite und Tiefe: In Sant’Andrea verstellen keine Bettenburgen den Blick in die Natur.
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Seit der Ankunft der deutschen Filmemacher sind aus den Höfen und Häusern in Sant’Andrea richtige Hotels geworden. Aber keine, die in die Höhe wachsen. Hier baut man lieber am Hang in die Breite und Tiefe. Das bedeutet, dass man, um zu seinem Zimmer zu kommen, am Pool entlang, über die Terrasse und eine Treppe hinter den Weinreben hinuntergehen muss.
In der Region dürfen Gebäude nämlich nur zweistöckig sein, zudem ist ein großer Teil des Gebiets 1996 zum „Nationalpark des toskanischen Archipels“ erklärt worden. Seitdem sind Neubauten verboten. „Wir Hotelbesitzer haben im Konsortium gemeinsam beschlossen, diese strengen Bauvorschriften einzuhalten, und niemand hat etwas dagegen gehabt“, sagt Anselmi.
Nicht, dass es niemand versucht hätte. In den 1970er Jahren kauften Investoren aus Neapel und Mailand den Weinbauern das Land abzukaufen, doch die Gemeinde wehrte sich gegen die Pläne. Deshalb stehen keine monströsen Hotelanlagen in den Hügeln des Ortes. Die Rechnung, dass mehr Betten, derzeit gibt es 586 in Sant’Andrea, auf der gesamten Insel Elba sind es fast 12.000, mehr Gäste und damit mehr Umsatz bedeuten, sie scheint in den Ohren der Menschen im stillen Nordwesten Elbas wenig verlockend zu klingen.
Wir wollen nicht, dass die George Clooneys mit ihren Privathelikoptern kommen.
Maurizio Testa, Hotelbetreiber in Sant’Andrea
„Warum sich in das Hamsterrad der Arbeit begeben?“, fragt Lorenzo Anselmi. „Wir wollen doch auch etwas vom Leben und von Sant’Andrea haben.“
Ein touristischer Gegenentwurf
Auch Maurizio Testa, der fünf Minuten vom Strand entfernt das Hotel Ilio betreibt, sehnt sich nach mehr Touristen. „Wir wollen keine Schwärme an Besuchern, die alles überlaufen“, erklärt er beim Aperitif auf der Hotelterrasse mit Blick auf das Meer.
Um den Strand von Sant’Andrea kann man beim Schnorcheln neben unzähligen Fischschwärmen auch Seepferdchen beobachten.
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Der glatzköpfige Testa, der ein wenig wie der inoffizielle Schutzpatron des Ortes wirkt, versteht Sant’Andrea als Gegenkonzept zur gesamten Insel Elba und auch zu deren Tourismuskonzept. Gerade im Nordosten der Insel werde immer weiter wachsender Tourismus angestrebt. Die Hoteliers im Nordwesten hingegen, sagt Testa, hätten nach der Pandemie verstärkt auf „green and slow travel“ setzen wollen. Ein etwas paradoxer Slogan für ein Paradies, das von Deutschland aus gar nicht so umweltfreundlich zu erreichen ist. Schließlich braucht es zwei Flüge, zwei Autofahrten und eine Fähre, um in der Idylle anzukommen.
Zumal man auch in Sant’Andrea selbst auf das Auto angewiesen ist – oder auf Taxis. Zwar soll es laut Website des Tourismusvereins einen Shuttlebus geben, doch der verkehrt nur in den Sommermonaten. Wer also in Sant‘Andrea nicht nur slow unterwegs sein will, muss auf das green verzichten.
Man strahlt in Bescheidenheit
Grün ist hier nur die Natur und vielleicht noch der Spritz, den das Hotel Ilio anbietet. Ein Busnetz wäre eine gute Idee, um mehr umweltbewusste Reisende anzulocken, meint auch Maurizio Testa. Doch die Angst vor Massentourismus sitzt tief in Sant’Andrea: „Wir haben gerade einen Hubschrauberlandeplatz für medizinische Notfälle akzeptiert“, sagt Testa. „Nur dafür darf er genutzt werden. Wir wollen nicht, dass die George Clooneys mit ihren Privathelikoptern kommen.“
Oktopussalat Elba wird lauwarm gegessen
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Sant’Andrea braucht keine Stars, um zu glänzen. Das Dorf strahlt lieber in Bescheidenheit. Gäste essen Tintenfisch, Schwertfisch, Thunfisch-Tartar und Garnelen, natürlich auch Pizza und Pasta. Doch danach geht es nicht ins Nachtleben. Das gibt es in Sant’Andrea schlicht nicht.
Ob aus Zurückhaltung, um nicht zu viele Leute auf das kleine Paradies zwischen Korsika und dem italienischen Festland aufmerksam zu machen, oder aus verhaltener Bescheidenheit der Einheimischen, sei dahingestellt. In Sant’Andrea vergeht die Zeit langsam, sie dehnt sich wie ein gut gekauter Kaugummi. In Sant’Andrea hat man schon genug erlebt, wenn man anschließend am Sandstrand sitzt und aufs Meer starrt, schwimmt, schnorchelt oder paddelt, um dann wieder auf das heilende Meer zu starren und zu beobachten, wie es sich ohne touristischen Rummel von Aquamarin in Türkis und dann in Blau verwandelt.
Der Klimawandel ist spürbar
In Sant’Andrea ist nichts los. Und das soll es auch nicht. Man darf sich im Urlaub danach sehnen. Und vielleicht sollte man das auch, solange es noch geht.
Zurück auf dem Schlauchboot erzählt Tauchlehrer Andrea Romolli auf kristallklarem Wasser vor Grotten und Felseninseln von einem besonderen Forschungsprojekt in Sant’Andrea: „An den Formiche della Zanca messen Forscher der Universität Genua minütlich die Wassertemperatur in fünf bis 40 Metern Tiefe.“
Und was zeigen die Daten? Egal wie versteckt der Garten Eden ist, die Erderwärmung mache auch hier nicht Halt: „1,5 bis zwei Grad mehr führen zu einem Sterben der Unterwasserwelt, weil sich durch die wärmeren Wassertemperaturen mehr Krankheitserreger im Meer ausbreiten können“, sagt Romolli. Einmal hätten sie eine Wassertemperatur von 31 Grad Celsius gemessen. „Das sind Temperaturen, die man eher auf den Malediven oder im Roten Meer erwartet.“
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de