„Scheiß auf Noten“-Segen in Berlin-Neukölln: Eine Aktion gegen Bauchschmerzen bei der Zeugnisvergabe

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„Scheiß auf Noten“-Segen in Berlin-Neukölln: Eine Aktion gegen Bauchschmerzen bei der Zeugnisvergabe

© TSP/Priska Wörl „Scheiß auf Noten“-Segen in Berlin-Neukölln: Eine Aktion gegen Bauchschmerzen bei der Zeugnisvergabe

„Du bist gut, so wie du bist!“ – Eine evangelische Kirchengemeinde will Schulkindern mit ihrem Segen vermitteln, dass Schulnoten nicht alles sind.

Von Priska Wörl

Eine goldene Medaille mit einem zwinkernden Smiley darauf hängt an einem gelben Wollfaden um Marlenes Hals. Der Smiley zeigt den Daumen nach oben. „Das hast du gut gemacht“, bedeutet das Gesicht auf der Medaille. „Du bist gut, so wie du bist!“ Ganz unabhängig von allem, was am nächsten Tag auf dem Schulzeugnis stehen wird.

Es ist der Nachmittag vor der Zeugnisvergabe. Ein Tag, der für manche Kinder nicht ganz leicht ist. Die zwölfjährige Marlene ist zum „Scheiß-auf-Noten-Segen“ an der Genezareth-Kirche in Berlin-Neukölln gekommen. Die Aktion des Segensbüros und der evangelischen Gemeinde soll Berliner Kindern vermitteln, dass schulische oder sonstige Leistungen nicht das Wichtigste im Leben sind. Marlenes Socken passen zum Anlass: „Choose happy“, ist darauf zu lesen.

Marlene wohnt in der Nähe des Tierparks und geht dort auf die Bernhard-Grzimek-Schule. An diesem Mittwoch beendet sie die sechste Klasse. Da gibt es dann auch das Jahresabschlusszeugnis. Bei zwei Noten wussten Marlene und ihre Mutter vorher, dass sie „auf der Kippe steht“: zwischen einer Drei und einer Vier. Aber mit Nachhilfe und zusätzlichem Aufwand hat sie es geschafft, sich die Note Drei zu sichern. Bei den anderen Noten werden sie sehen, was das Zeugnis bringt.

„Ich weiß, dass die Noten ihr Bauchschmerzen bereiten“, sagt Marlenes Mutter. Deshalb ist sie an diesem Tag mit ihrer Tochter zu der Aktion gefahren. Marlene sei sehr zartfühlend und sie brauche es manchmal, sich einfach mal jemandem anzuvertrauen. An diesem Tag hat sie sich mit Pfarrerin Johanna Friese über ihr anstehendes Zeugnis unterhalten.

„Das ist dieses Jahr ein Experiment“, sagt die Pfarrerin Johanna Friese. Der Segen mit dem besonderen Namen zur Zeugnisvergabe findet zum ersten Mal statt. Auf dem Vorplatz der Kirche rennen Kinder umher, bunte Wimpel sind von Baum zu Baum gespannt. Aus einem Wagen gibt es Eis zu kaufen, an einem Tisch daneben Popcorn, Kuchen und Kalt- oder Heißgetränke.

Pfarrerin Johanna Friese segnet an diesem Tag die Kinder und ihre Wünsche. Sonst organisiert das Team des Segensbüros Veranstaltungen wie Pop-up-Hochzeiten, Pop-up-Taufen oder erfüllt sonstige Segenswünsche.

Johanna Friese hat Marlene die Medaille um den Hals gelegt, anschließend nimmt sie die Hände der Zwölfjährigen in ihre und sagt leise und vertraulich einige Worte zu ihr. Marlenes Blick ist dabei auf den Boden gerichtet. „Ich fand den Segen sehr schön“, sagt Marlene später.

Sie und ihre Mutter verbringen fast den ganzen Nachmittag vor der Genezareth-Kirche. Sie sitzen auf Gartenstühlen im kleinen Hof der Kirche. „Über sieben Brücken musst du gehen“, singt ein Musiker mit Gitarre passenderweise. „Siebenmal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein.“

Eltern sollen auf der Seite ihrer Kinder stehen

Biertische voller bunter Farbtöpfe und Kartoffelstempel laden zum Basteln und Gestalten ein. In einer Ecke stehen gelbe, blaue und grüne Liegestühle. Dort sitzt Ingrid Skrodzki. Sie ist die Leiterin der Jugend- und Familienhilfe des Diakoniewerk Simeon. An diesem Tag bietet sie eine Beratung für Kinder und Familien an.

Wie geht man mit Notendruck und Schulstress um? „Für die Eltern ist das immer einen Spagat“, sagt Ingrid Skrodziki. „Einerseits wollen die Eltern, dass sie Kinder gute Noten haben, aber sie wollen und sollen auch auf der Seite der Kinder stehen, um sie zu entlasten.“

Ingrid Skrodzki empfiehlt Eltern, „die Anwälte ihrer Kinder“ zu sein. Viele Familien wüssten nicht, dass es das kostenfreie Beratungsangebot der Diakonie gibt. Auch deshalb ist Ingrid Skrodzki an diesem Tag vor Ort. Sie hofft, Familien zu erreichen, die bisher nichts davon wussten.

An dem Medaillenband um Marlenes Hals hängt neben dem Smiley noch ein gelbes Kärtchen. „Fanclub“ hat Marlene darauf geschrieben. Der Fanclub ist eine AG, die sie gemeinsam mit ihren Freundinnen in der Schule gegründet hat. „Der Fanclub ist mir sehr, sehr wichtig“, betont Marlene mit einem heftigen Nicken.

„Scheiß auf Noten“-Segen in Berlin-Neukölln: Eine Aktion gegen Bauchschmerzen bei der Zeugnisvergabe

© TSP/Priska Wörl

Im Fanclub spielen und filmen die Schulkinder Szenen wie in ihrer Lieblingsserie „Willkommen im Haus der Eulen“ nach. Mit leuchtenden Augen erzählt Marlene, worum es in der Fantasy-Serie geht. In der AG machen die Kinder alles selbst. Kostüme, Schminke, Videodreh und -schnitt. „Im Videoschnitt bin ich ein kleiner Nerd.“ Marlene lacht.

Auf das Kärtchen an der Medaille sollten die Kinder oder Eltern Dinge aufschreiben, die sie „voll gut können“. So steht es auf dem Zettel, der in dem Bastelkörbchen mit den Medaillen liegt. Deshalb hat sie den Fanclub auf das Kärtchen geschrieben. Zu Hause will sie mit ihrer Mutter auch noch Tierschutz dazuschreiben. Sie ernährt sich vegetarisch, seitdem sie fünf ist, und rettet immer wieder verletzte Tiere – bisher zwei Igel, eine Krähe, eine Babyratte, eine Kröte und erst letzte Woche ein Eichelhäherküken.

Nachdem Marlene den Segen vor der Genezareth-Kirche erhalten hat, setzt sie sich auf die oberste Stufe des Siegertreppchens. Eine Eins prangt auf dem roten Treppchen aus Bierkisten. Eine Helferin hält den Moment mit einer Polaroid-Kamera fest. Das Bild schenkt sie Marlene als Erinnerung.

Wie Marlene nach diesem Nachmittag auf die Zeugnisausgabe am folgenden Tag blickt? „Ich habe ein gutes Bauchgefühl“, sagt sie.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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