Rekonstruktion eines Absturzes: Warum Graichen am Ende doch noch gehen musste
© dpa/Kay Nietfeld Rekonstruktion eines Absturzes: Warum Graichen am Ende doch noch gehen musste
Der Mann, der als unersetzbar galt, räumt seinen Posten. Sein Chef Robert Habeck wirkt dabei erleichtert. Wie konnte es so weit kommen? Und wie beschädigt ist der Minister?
Von
- Daniel Friedrich Sturm
Robert Habeck sieht besser aus als noch vor einer Woche. Gerade einmal sieben Tage ist es her, dass er von der Regierungsbank aufgesprungen war, weil ihn eine kritische Rede des CDU-Abgeordneten Tilman Kuban in Aufruhr versetzt hatte. Habeck stellte ihn zur Rede, seine Gesichtsausdrücke sagten mehr, als selbst er es in Worte hätte fassen können: Er erschien angespannt, unter Druck.
Und nun? An diesem Mittwochmorgen, im Bundeswirtschafts- und Klimaministerium, wirkt Hausherr Habeck überraschend aufgeräumt. Fast so wie all jene Menschen in Berlin, die schon am Mittwoch einem Brücken-Wochenende entspannt entgegenschlendern.
Erst kurz vor Habecks Auftritt lädt seine Pressestelle dazu ein. Krisenmodus, wieder einmal, nun am Tag vor Christi Himmelfahrt, das Parlament ist längst in den Ferien. Dabei geht es an diesem Tag um dieselbe Personalie wie vor einer Woche im Plenum des Bundestages: Habecks Staatssekretär Patrick Graichen.
Habeck spricht von einer „dramatische Konsequenz“
Seit bekannt geworden war, dass Graichen seinen Trauzeugen Michael Schäfer zum Chef der Deutschen Energie-Agentur machen wollte, ist sein Rücktritt gefordert wurden. Nun muss er tatsächlich gehen.
Habeck nennt das eine „dramatische Konsequenz“, aber es gibt neue Compliance-Vorwürfe, und sie lassen ihm keine Wahl. Hintergrund ist die geplante finanzielle Förderung eines Projekts des BUND-Landesverbands Berlin, in dessen Vorstand die Schwester Graichens ist.
Der Staatssekretär soll in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Er sei sich mit Graichen einig gewesen, dass die gemeinsame Arbeit nicht fortgesetzt werden solle, sagt der Minister.
Habeck also muss sich von Graichen trennen. Es wirkt fast, als erleichtere ihn diese Entscheidung. Obwohl sie für Habeck nicht einfach gewesen sein kann: In den vergangenen Wochen war immer wieder zu lesen, Graichen sei für Habeck quasi unverzichtbar.
Graichen galt als Alpha-Tier
Er galt als Architekt der Energiewende und der großen Gesetzesvorhaben aus dem Hause Habeck, als arbeitsversessen. Als ehrgeizig. Als jemand, der schon als junger Referent im Bundesumweltministerium davon sprach, eines Tages wolle er Staatssekretär werden. Alpha-Tiere nennt man solche Menschen.
Habeck lobt Graichens Verdienste während der Energiekrise. Das Land vor einer Gasmangellage habe der bewahrt. Graichen habe Klimaschutz zum Regierungshandeln gemacht. Das klingt wie ein Nachruf. Und auch hier schwingt Bewunderung mit.
Zuweilen wurden Graichen ja geradezu übermenschliche Fähigkeiten nachgesagt. „Ich bin gottfroh, dass letzten Winter Habeck und Graichen in Verantwortung waren. Jede Wohnung war warm“, twitterte kürzlich ein Grünen-Abgeordneter. Das klang fast nach messianischer Verehrung.
Und nun das, der Absturz, am Tag vor Christi Himmelfahrt. „Zu angreifbar“ habe sich Graichen gemacht, sagt Habeck. Graichen war schon länger in der Kritik, besonders die FDP störte sich daran, dass er seinen Plan hin zur Klimaneutralität ohne große gedankliche Offenheit durchziehen wollte.
Dass sich Habeck nun für einen Wechsel an diesem entscheidenden Posten entschieden hat, bietet möglicherweise Chancen für einen kommunikativen Neuanfang, insbesondere bei der Vermittlung des Heizungsgesetzes, das viele Menschen im Land nach wie vor stark verunsichert. Es gibt Grüne, die darauf hoffen.
Es muss vor allem für die Bremer Grünen fast höhnisch wirken, dass die Entscheidung wenige Tage nach der Wahl fällt, bei der sie das schlechteste Ergebnis seit über 20 Jahren eingefahren haben.
So zäh sich Graichens Rückzug über Wochen hingezogen hat, so rasant reagiert das politische Berlin darauf. Selbst weit weg von Berlin. Der Bundeskanzler etwa wird in der isländischen Hauptstadt Reykjavik auf Graichens Schritt angesprochen. Er sei „heute“ darüber informiert worden und habe das zur Kenntnis genommen, sagt Olaf Scholz am Mittwochvormittag.
Innenpolitik am Rande des Gipfeltreffens des Europarats. „Mit Herrn Graichen selbst habe ich gut zusammengearbeitet“, sagt der Kanzler, „und ich gehe davon aus, dass der Wirtschaftsminister jetzt seine Arbeit mit voller Kraft fortsetzt.“ Er „geht davon aus“? Aber warum sagt Scholz es dann?
Ich gehe davon aus, dass der Wirtschaftsminister jetzt seine Arbeit mit voller Kraft fortsetzt.
Kanzler Olaf Scholz (SPD)
Das war nicht das erste Mal, dass Scholz im Ausland auf Graichen zu sprechen kam. In Nairobi hatte er das schon der vorigen Woche getan. Der Wortlaut war vielsagend. Es kam der Jurist, der Anwalt durch, der diesen Kanzler ziemlich prägt.
Gefragt nach der Causa Graichen sagte Scholz unter der Sonne Kenias, vor dem Präsidenten-Palast: „Ich gehe davon aus, dass alles andere entsprechend der Regeln, die wir haben, erfolgen wird.“ Schon da: Ich gehe davon aus. Nun kann Scholz sagen, dass er doch damals alles dazu gesagt habe. Damals, jenseits von Deutschland, in Afrika.
Warum die SPD mit Graichen fremdelte
Ziemlich technokratisch äußert sich auch der ansonsten wenig technokratische SPD-Generalsekretär. „Wir haben Robert Habecks Personalentscheidung mit Respekt zur Kenntnis genommen“, sagt Kevin Kühnert dem Tagesspiegel.
Einen kleinen Hieb für Habeck hat er noch parat, auch wenn das, natürlich, nicht als Hieb gedacht ist. „Mit dem Schlussstrich des Ministers unter eine wochenlange Debatte über sein Haus“, sagt Kühnert, „verbinden wir die Erwartung, dass nun wieder Sachpolitik in den Mittelpunkt rückt“.
Kein Wort zu Graichen, dessen Name taucht in Kühnerts Statement gar nicht auf. Das Verhältnis zwischen der SPD und Graichen war, nun ja, ausbaufähig.
Die Sozialdemokraten sahen ihn Graichen einen Mann, der Deutschland als Industriestandort, als Hort der Chemie-, Stahl- und Automobilindustrie zugunsten einer puristischen Klimapolitik opfern wollte. Der bei der Klimapolitik den Aspekt, wie die Menschen all das bezahlen sollen, vernachlässigt hat.
20 Jahre lang schnitten die Grünen in Bremen nicht mehr so schlecht ab wie jetzt.
Kühnert deutet das in seinen Worten zum Graichen-Rücktritt am Mittwoch an, ohne es auszusprechen. Es werde Zeit, sagt der SPD-Generalsekretär, dass man wieder um die richtigen Wege ringe, „gerechten Klimaschutz zu organisieren“. Gerechten Klimaschutz, nicht Klimaschutz.
Die SPD mag das Narrativ, wonach sich die Grünen gern um die Post-Materialisten kümmern, gar um Besserverdienende, um die städtischen Lastenrad-Besitzer. Sich selbst beschreibt die SPD dann als die Kämpferin der Industriearbeiter, all jener, die den Euro zweimal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgeben.
Mit erwartbarem Biss kommentiert die FDP den Rückzug Graichens, dem sie ja schon lange das Leben schwer macht mit ihrem Wettern gegen dessen „Heizung-Hammer“ („Bild“-Zeitung). Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) „respektiert“ den Rückzug Graichens. Er würde sich, sagt er dem Tagesspiegel, „wünschen, dass dies ein Befreiungsschlag für Robert Habeck ist, damit sein Ressort wieder in ruhigeres Fahrwasser kommt“.
Eine Boshaftigkeit zum Ade
Eine Spitze fügt Kubicki, mit Habeck lange bekannt, gleich hinzu. Er glaube, dass die „Turbulenzen der vergangenen Wochen im Ministerium auch Auswirkungen haben könnten auf den Zeitplan des Gebäudeenergiegesetzes“.
Da ja Graichen als für die Energiewende „unersetzlich“ dargestellt worden sei „dürfen wir bedauerlicherweise daran zweifeln, dass das Parlament eine zügige Entscheidungsfindung vornehmen kann“, sagt Kubicki. Eine Boshaftigkeit zum Ade.
Groß ist das Schlamassel für Habeck, während seine Partei Wahlen verliert und Umfrageprozente ebenfalls. Ausgerechnet in dieser Lage wirkt der Vizekanzler auf der Pressekonferenz wieder mehr wie der Habeck von früher. Als einer, der schon als Kanzler gehandelt wurde und den Grünen Traumergebnisse bei Landtagswahlen bescherte.
Auf die Frage, wie er verhindern will, dass der Anschein von Voreingenommenheit erneut entstehen könnte, sagt er: „Es sind alle gewarnt, durch die aktuelle Debatte, sich auf Herz und Nieren zu überprüfen.“ Und dann, leicht vernuschelt, der Hauch eines spöttischen Lächelns: „Also, ich werde nicht meinen Trauzeugen jetzt als Staatssekretär holen.“
Zur Startseite
- Bündnis 90 / Die Grünen
- Presseportal
- Robert Habeck
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de