Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“

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Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

© Imago/Jakob Hoff Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“

Zuchtmeister wollte er in seinen zwölf Jahren im Amt nie sein, sagt Enrico Brissa. Von der Macht der Symbole und der Kunst, die Tür einer Staatslimousine zu öffnen.

Von Daniel Friedrich Sturm

Herr Brissa, Sie waren zwölf Jahre lang Protokollchef, erst beim Bundespräsidenten, bis Ende Mai bei der Bundestagspräsidentin. Nun hören Sie auf. Sind Sie die roten Teppiche leid?
Der Bundestag, das Reichstagsgebäude besitzt gar keinen roten Teppich. Im Ernst: Ich bin gar nichts leid. Es war mir in den letzten zwölf Jahren nie langweilig. Als dienstältester Protokollchef des Bundes freue ich mich jetzt aber darauf, künftig die Ausschussarbeit des Bundestages zu koordinieren.

Der rote Teppich und das Cocktailglas sind ja eher Klischees. Klären Sie uns doch mal auf: Was macht ein Protokollchef?
Es gibt ein paar Missverständnisse über das Protokoll. Es wird oft mit Häppchen, Servietten und Büttenpapier gleichgesetzt, also mit Beiwerk. Dabei ist das Protokoll viel mehr, nämlich ein kommunikatives Instrument ordnenden Charakters. Das gilt für jede Art von Protokoll, ob beim Staat, bei Universitäten, Kirchen, Unternehmen. Es geht um die Frage: Welche Botschaft transportieren wir wie?

Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

Im Hintergrund und doch zentral: Enrico Brissa als Protokollchef, hier beim Neujahrsempfang des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue mit Joachim Gauck und seiner Lebenspartnerin Daniela Schadt. © Davids/Sven Darmer

Und welche Botschaft will die Bundesrepublik Deutschland transportieren?
Das staatliche Zeremoniell dient der Repräsentation und es will politische Botschaften setzen. Protokoll hat eine eminent wichtige politische Seite, die immer bedeutender wird. Wir leben in einer kommunikativen Gesellschaft, die Macht der Bilder nimmt zu, wird schneller und mächtiger.

Was meinen Sie mit „ordnendem Charakter“?
Ein Vorgänger von mir sagte einmal: Protokoll ist, wenn’s klappt. Protokoll generiert Sicherheit. Das ist im internationalen Austausch, wenn Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und politischen Hintergründen zusammentreffen, sehr wichtig. Das Protokoll ist ein Stoßdämpfer der Weltdiplomatie, lautet das Bonmot eines französischen Diplomaten.

Kein anderes Land hat in seiner jüngeren Geschichte so viele Zäsuren erlebt wie wir. Deshalb ist der Grad dessen, was als selbstverständlich tradiert wird, sehr gering.

Enrico Brissa

Was ist der protokollarische Charakter Deutschlands?
Heute ist Deutschland eine souveräne, demokratische und föderale Republik mit einem starken Parlament. Das kommt in allen internationalen Begegnungen zum Ausdruck. Das war aber nicht immer so. Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen. Kein anderes Land hat in seiner jüngeren Geschichte so viele Zäsuren erlebt wie wir. Deshalb ist der Grad dessen, was als selbstverständlich tradiert wird, sehr gering. Und zwar im Privaten wie in der politischen Kultur.

Das Protokoll ist also mitnichten neutral?
Das staatliche Protokoll ist parteipolitisch neutral. Es geht darum, die Staatlichkeit und deren Repräsentanten darzustellen, zum Leben zu erwecken. Der Staat ist ein unsichtbares Gebilde, das der Vermittlung bedarf: etwa durch Symbole, Gesten, Rituale.  

Deutschland tritt weniger pompös auf als Frankreich, Großbritannien oder die USA.
Ich würde das anders formulieren: Der Stil der Bundesrepublik war traditionell von Sachlichkeit und Zurückhaltung geprägt. Die Bonner Republik war ein Staat ohne Pathos, der jedem Übermaß an staatlicher Repräsentation und Symbolik eine nahezu aufdringliche Zurückhaltung entgegensetzte. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Frankreich, Großbritannien und die USA haben eine andere politische Kultur, zu der auch ein anderes Verständnis von staatlicher Repräsentation gehört.

Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Angst vor großen Hunden. Putin brachte seinen trotzdem 2007 zur Pressekonferenz mit. © Imago/CommonLens

Sie waren für Christian Wulff und Joachim Gauck tätig, dann für Norbert Lammert, Wolfgang Schäuble und zuletzt Bärbel Bas. Wie sehr prägte die Persönlichkeit des Amtsinhabers Ihre tägliche Arbeit?
Sehr. Als Protokollchef ist man nah dran. Ich habe manchmal mit Bundespräsident Gauck fast mehr Zeit verbracht als mit meiner Frau. Da muss die „Chemie“ stimmen.

Gab es Protokoll-Muffel unter Ihren Chefs?
Nein. Jeder ist anders, jede Vorprägung ist anders. So wurde Wolfgang Schäuble in den Bundestag gewählt, als ich ein Jahr alt war. Diesen Erfahrungsvorsprung sollte man bei der protokollarischen Arbeit berücksichtigen.

Diplomaten oder wir Journalisten beklagen auf Auslandsreisen zuweilen robuste Protokollmitarbeiter. Wie mächtig ist das Protokoll, wenn es in den Ablaufplänen heißt „Abfahrt um 15.15 Uhr“?
Gegen 15.13 Uhr! Circa 15.13 Uhr!

Also 15.20 Uhr geht auch?
Theoretisch ja. Aber wenn man bedenkt, dass bei protokollarischen Großereignissen, zum Beispiel einem Besuch eines US-Präsidenten, Hunderte Menschen monatelang planen, ist man gut beraten, sich ans Protokoll zu halten. Sonst geht’s schief.

Es gibt diesen Witz: Was unterscheidet Protokollchefs von Terroristen? Mit Terroristen kann man verhandeln. 

Enrico Brissa, ehemaliger Protokollchef von Bundespräsident und Bundestag

Und was sagen Sie zu den Klagen über die „Diktatur des Protokolls“?
Es gibt diesen Witz: Was unterscheidet Protokollchefs von Terroristen? Mit Terroristen kann man verhandeln. Solche Sprüche lockern die Gesprächsatmosphäre auf. Gut so! In der Sache ist das natürlich Quatsch. 

In den Medien ist immer wieder zu lesen oder zu hören, der Bundeskanzler unternehme einen Staatsbesuch. Was genau definiert einen Staatsbesuch?
Ein Staatsbesuch ist ein seltener und hochoffizieller Besuch eines Staatsoberhauptes in dieser Eigenschaft – auf Einladung eines anderen Staatsoberhauptes. Das Hochamt internationaler Besuche.

Was macht einen Staatsbesuch aus?
Zu einem Staatsbesuch gehören in Deutschland bestimmte exklusive protokollarische Elemente und Programmteile, wie zum Beispiel die aus vier Kampfflugzeugen der Luftwaffe bestehende Lufteskorte, dann 21 Salutschüsse und Ehrenspalier bei der Ankunft. Außerdem die große Beflaggung auf der Protokollstrecke, die Begrüßung mit militärischen Ehren, ein Staatsbankett, die Kranzniederlegung an der Neuen Wache, der Gang durch das Brandenburger Tor und der Besuch eines Landes der Bundesrepublik.

Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

Die Queen beim Besuch anno 2015 mit Klaus Wowereit (links) und Gauck (Mitte). © dpa/Jens Kalaene

Als die Queen 2015 Berlin besuchte, überreichte Gauck ihr ein Gemälde, das die junge Elizabeth reitend zeigt, neben ihrem Vater, ganz in Gelb …
… dazu kann ich nichts sagen. Ich hatte es nicht ausgesucht! Mehr sage ich dazu nicht …

… „Es ist eine seltsame Farbe für ein Pferd“, sagte die Queen und verneinte die Frage, ob sie auf dem Bild ihren Vater erkenne. Wie ging es Ihnen da?
Erstens: Ich war anwesend. Zweitens: Der Sachverhalt stimmt weitgehend. Drittens: Ich habe das Bild nicht ausgesucht.

Kleinigkeiten können eine vernichtende Wirkung entfalten.

Enrico Brissa

Sie haben mal im Buckingham-Palast hospitiert. Wird man als Bürgerlicher und Republikaner dort für voll genommen?
Ja. Viele Kollegen dort sind nicht-adeliger Herkunft, das ist kein Kriterium. Der Aufenthalt dort gehört zu den Höhepunkten meiner bisherigen Karriere.

Was war spannend?
Ich durfte die Akte der „Operation London Bridge“ einsehen. Das ist die sehr umfangreiche Akte in Vorbereitung des Ablebens Ihrer Majestät der Königin.

Was ist der größte anzunehmende protokollarische Fauxpas?
Es kann viel schiefgehen, Kleinigkeiten können eine vernichtende Wirkung entfalten. Denken Sie an „Sofagate“, den Besuch der EU-Kommissionspräsidentin und des EU-Ratspräsidenten in der Türkei. Dieser Fauxpas hat allen geschadet. So etwas muss man verhindern.

Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

2021 verbannte die türkische Regierung die Präsidentin der EU auf ein Sofa. Nur für den Ratspräsidenten der Europäischen Union, Charles Michel, hatte der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen Stuhl neben sich vorgesehen. © Imago/Xinhua/Mustafa Kaya

Und der Hund, den Wladimir Putin auf Angela Merkel losließ?
Das ging gar nicht. Ob Sie es aber konkret verhindern können, ist eine andere Frage. 

An welche Panne erinnern Sie sich?
Große Havarien sind mir glücklicherweise nicht passiert. Ich habe allerdings schon stolpernde Menschen auf Treppen aufgefangen, das war mitunter wirklich gefährlich.

Ich wollte nie der ,Zuchtmeister’ sein.

Enrico Brissa

Sie haben das Abschreiten des roten Teppichs, kurz die „militärischen Ehren“, mit Amtsträgern geprobt. Sie sind also auch so etwas wie ein Lehrer fürs Protokoll?
Bundespräsident Gauck und Frau Schadt haben mal in einem Interview gesagt, sie seien sich vorgekommen wie im Verkehrsgarten. Aber ganz im Ernst: Versetzen Sie sich in die Lage eines Bürgers, der plötzlich Bundespräsident wird. Das erfordert eine intellektuelle und auch emotionale Leistung des Apparats. Ich wollte nie der „Zuchtmeister“ sein. Protokoll darf kein Korsett sein. Wir beraten und helfen. Punkt.

Was haben Sie genau erklärt?
Der neu gewählte Bundespräsident erhält selbst die militärischen Ehren, um sie danach geben zu können. Da geht es konkret um Wege, die man auf Papier mit Pfeilen zeichnet. Wo steht man? Wo hält man inne? Wie verneigt man sich? Wo steht der Gast? Das muss ein Bundespräsident üben, sonst klappt es nicht.

2012 trat Bundespräsident Wulff zurück. Wie haben Sie diesen Auftritt und die Zeit davor und danach erlebt?
Solch eine Erfahrung wünscht man niemandem.

Protokollchef des Bundespräsidenten: „Deutschland ist ein Land gebrochener Traditionen“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

Christian und Bettina Wulff trennten und versöhnten sich mehrfach. © picture alliance / dpa/Wolfgang Kumm

Sie haben nach der Rücktrittserklärung Wulffs die Tür hinter ihm und seiner Ehefrau Bettina geschlossen.
Der Termin war ja kein Protokolltermin, sondern ein Pressetermin. Ich war zugegen und habe plötzlich gesehen, dass die Türe aus Gründen der Diskretion sofort geschlossen werden muss. Das habe ich dann getan.

Sie wollten Bilder vermeiden, die zeigen, wie die Wulffs im Aufzug nach unten fahren?
Was immer man dort gesehen hätte, sollte und soll im Dunklen bleiben.

Wie nervös darf ein Protokollchef vor dem Besuch eines wichtigen Staatsgastes sein?
Meine Nervosität hält sich in Grenzen. Es ist wichtig, ruhig zu bleiben und Ruhe auszustrahlen.

Wer öffnet die Tür der Limousine, mit dem ein Staatsgast, etwa vor dem Schloss Bellevue, eintrifft?
Wenn der Gast von Personenschützern begleitet wird, wird ein solcher die Türe öffnen. Im Ehrenhof von Schloss Bellevue sind es sonst die Kollegen der Hausintendanz, die auch zum Protokoll gehört.

Wussten Sie übrigens, dass die Briten besonders hohe Fahrzeuge haben, damit man bequem mit Kopfbedeckung ein- und aussteigen kann? 

Enrico Brissa

Worauf kommt es beim Öffnen der Autotür an?
Dass sie auch aufgeht! Und, dass man die richtige Tür, also auf der richtigen Seite, zum richtigen Zeitpunkt öffnet.

Also nicht öffnen, wenn der Gast noch telefoniert?
Dann lieber warten. Ebenso beim seltenen Fall, bei dem sich der Hausherr verspätet. Wussten Sie übrigens, dass die Briten besonders hohe Fahrzeuge haben, damit man bequem mit Kopfbedeckung ein- und aussteigen kann?  

Welche Erinnerung haben Sie an den Kurzbesuch des russischen Präsidenten Putin bei Bundespräsident Gauck?
Ich sage dazu gar nichts. Vielleicht nur das: Bundespräsident Gauck hat Russland nie besucht. 

Ich fände es in Ordnung, eine Armbanduhr zum Frack zu tragen. Diese Freiheit kann man sich nehmen.

Enrico Brissa

Wie viele Smokings besitzen Sie?
Zwei.

Und wie viele Fracks?
Einen Frack. Und zwei Cuts.

Was ist Ihr Tipp für Menschen, die ein einziges Mal zum Staatsbankett mit König oder Königin eingeladen sind: Frack leihen oder kaufen?
Leihen. Bis zum letzten Staatsbesuch von König Charles III. stellte sich die Frack-Frage gar nicht. Bei Staatsbesuchen in Deutschland war der Frack über Jahrzehnte nicht vorgesehen, sondern „nur“ der Smoking. Ich war selbst ganz überrascht.

Wieso ist eine Armbanduhr zum Frack tabu?
Das ist eine Konvention. Früher trug man eine besonders flache Taschenuhr, die Frackuhr. Aber wir Protokoller sind keine Tanzlehrer, die Detailfragen zu Manieren und Umgangsformen beantworten. Da verweisen wir immer an den Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverband. Ich fände es in Ordnung, eine Armbanduhr zum Frack zu tragen. Diese Freiheit kann man sich nehmen.

Wie benimmt man sich „weltläufig“? Sie haben darüber ja ein ganzes Buch geschrieben.
Man sollte die sozialen Normen des Zusammenlebens und kulturellen Usancen kennen, um sich souverän verhalten zu können. Ja, auch um sich über solche Regeln bewusst hinwegsetzen zu können. Mit Ausnahme des Gebots der Rücksichtnahme, das versteht sich von selbst.

Sie haben ein weiteres Buch verfasst mit dem Titel „Flagge zeigen! Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen“. Warum brauchen wir Schwarz-Rot-Gold?
Ich war mit Familie und Freunden auf einer Demonstration und wurde für das Tragen der Deutschland- und Europaflagge beschimpft und körperlich angegriffen. Ich dachte, nach der Fußball-WM 2006 hätten wir zur Nationalflagge ein anderes Verhältnis. Im Buch gehe ich der Frage nach, wie es dazu kommen konnte, und widme mich der aktuellen Bedeutung von Verfassungspatriotismus für unser Gemeinwesen.

Was bedeuten Ihnen ganz persönlich schwarz-rot-goldene Flagge, Bundesadler und Nationalhymne?
Es sind ganz wichtige Symbole, die wir in ihrer historischen Dimension begreifen müssen, um sie in der Gegenwart verwenden zu können. Ich besitze privat einige Flaggen, etwa eine, die schon über dem Kapitol wehte. Wir hissen Schwarz-Rot-Gold nicht in unserem Garten. Aber ich freue mich immer, wenn ich vom Fahrrad aus die Deutschlandflaggen und die Europaflagge auf dem Reichstagsgebäude sehe.

In den ersten Jahrzehnten nach 1949 sah man weniger Schwarz-Rot-Gold.
Der erste Bundesminister, der die schwarz-rot-goldene Flagge in seinem Amtszimmer hatte, war Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle 1983. Heute gehört die Deutschlandflagge zur Ausstattung des Büros eines jeden Spitzenrepräsentanten unseres Staates.

Und die Europaflagge?
Die auch. In der Regel stehen beide Flaggen, ganz praktisch, wie wir Deutschen es mögen, in einem Ständer.

  • Bundespräsident
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  • Wolfgang Schäuble

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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