Negativrekord bei Pisa-Studie: Jugendliche aus Deutschland schneiden so schwach ab wie nie
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Negativrekord bei Pisa-Studie: Jugendliche aus Deutschland schneiden so schwach ab wie nie
Bei der neuen Pisa-Studie fallen die Schüler aus Deutschland unter das Niveau von vor zwanzig Jahren. Damit ist Deutschland nur noch OECD-Durchschnitt. Auch weltweit gehen die Leistungen zurück.
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Die Leistungen von 15-Jährigen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen sind in Deutschland so schwach wie nie: Das ist das zentrale Ergebnis der aktuellen Pisa-Studie, die am Dienstag veröffentlicht wurde. Die Resultate liegen noch unter denen der ersten Pisa-Studie, die im Jahr 2001 Schockwellen durch die deutsche Bildungslandschaft sandte.
Im Vergleich zur vorangegangenen Pisa-Studie von vor vier Jahren sind die Rückgänge teilweise enorm, in Mathematik etwa um 25 auf jetzt 475 Punkte.
In Mathe und bei der Lesekompetenz entspricht das Minus in etwa dem typischen Lernfortschritt, den 15-Jährige sonst während eines ganzen Schuljahres erzielen (25-30 Leistungspunkte). Die Jugendlichen liegen jetzt also ein Jahr zurück.
Bereits in den Jahren 2015 und 2018 hatten sich die Jugendlichen in Deutschland im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren verschlechtert, nachdem sie sich zuvor kontinuierlich gesteigert hatten. Der Abfall ist aber noch einmal deutlich stärker als in den Jahren zuvor.
Beim Lesen und in der Mathematik liegt Deutschland jetzt im Durchschnitt der OECD-Staaten, in den Naturwissenschaften leicht darüber. Zuvor konnte sich Deutschland in allen drei Bereichen über dem OECD-Schnitt platzieren.
Dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht noch weiter zurückfällt, liegt daran, dass die Leistungen auch in vielen anderen Staaten deutlich nachlassen, wenngleich die Verluste in Deutschland überdurchschnittlich groß sind.
Die Durchschnittsleistungen von Schülerinnen und Schülern gehen weltweit in die falsche Richtung.
Zitat aus der Pisa-Studie
Von einem „noch nie dagewesenen Rückgang“ weltweit spricht die Studie: „Die Durchschnittsleistungen von Schülerinnen und Schülern gehen in die falsche Richtung.“ Die Rede ist von einem „negativen Schock“, der viele Länder gleichzeitig betreffe.
Spitzenreiter bleiben in allen Bereichen Singapur, Japan und Südkorea sowie einige Metropolregionen Chinas (hier nahm nicht das ganze Land teil) – das sind auch die wenigen Länder, die sich teilweise leicht verbessern können. Singapur hat in Mathematik mit 575 Punkten hundert Punkte Vorsprung auf Deutschland, das sind gleich mehrere Lernjahre.
Deutlich besser als Deutschland sind zum Beispiel auch Estland, Kanada, Irland, Australien und Neuseeland. Länder, die ähnlich stark wie Deutschland nachlassen, sind der Studie zufolge Island, die Niederlande, Norwegen und Polen.
Interessant: Auch Finnland, das früher oft an der Spitze der Pisa-Ranglisten stand und wo jahrelang Delegationen aus der deutschen Bildungspolitik als Vorbild hinpilgerten, verzeichnet deutlich sinkende Schülerleistungen, beim Lesen und in der Mathematik noch einschneidender als in Deutschland.
Insgesamt zeigt die Studie, dass sich viele der seit Jahren bestehenden und diskutierten Krisen des deutschen Bildungssystems teilweise weiter zuspitzen. Kernthesen sind unter anderem:
- Die Pandemie hat große Auswirkungen, ist aber nicht der einzige Grund für die schlechter werdenden Leistungen weltweit.
- Die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland bleibt größer als in vielen anderen Staaten.
- Die Gruppe der „Risikoschülerinnen und -schüler“ nimmt noch einmal deutlich zu.
- Jugendliche mit Migrationshintergrund haben einen gravierenden Leistungsrückstand.
Hier die Befunde der Pisa-Studie im einzelnen:
Die Folgen der Pandemie
Die Auswirkungen der Pandemie sind in sehr vielen Ländern ein „offensichtlicher Faktor“, heißt es in der Studie, deren Daten im Jahr 2022 erhoben wurden. Schulschließungen, eine schnelle Umstellung auf digitalen Unterricht, gesundheitliche und mentale Probleme und Lehrkräftemangel hätten Jugendlichen weltweit zu schaffen gemacht. Das zeigen auch Befragungen im Rahmen der Pisa-Studie deutlich.
So hatten während der Schulschließungen 35 Prozent der Jugendlichen in Deutschland mindestens einmal pro Woche Probleme, ihre Aufgaben zu verstehen. Für 23 Prozent war es schwierig, eine Person zu finden, die ihnen hilft (der OECD-Schnitt ist hier jeweils ähnlich). Nur neun Prozent wurden täglich von ihrer Schule gefragt, wie es ihnen geht (OECD-Schnitt: 13 Prozent).
Insgesamt erlebten 71 Prozent, dass ihre Schulgebäude länger als drei Monate geschlossen waren, deutlich mehr als im OECD-Schnitt, wo das die Hälfte angab. Von nicht-gymnasialen Schulformen berichteten nur 64 Prozent, regelmäßig am Distanzunterricht teilzunehmen (Gymnasien 87 Prozent). Überhaupt habe Deutschland im internationalen Vergleich deutliche schlechtere Ausgangsbedingungen für das Online-Lernen gehabt als viele andere Länder.
Allerdings machen die Bildungsforschenden Corona und die Folgen für die Schulen nicht alleine für die Ergebnisse verantwortlich. Zum einen können sie keinen gravierenden Unterschied zwischen Ländern ausmachen, die ihre Schulen nur für kurze Zeit schlossen, und jenen mit wochen- oder gar monatelangen Schul-Lockdowns. Sie verweisen zudem auf die Leseleistungen in Ländern wie Finnland, Schweden und den Niederlanden, die schon lange vor der Pandemie zurückgegangen seien: „Es gibt Langzeitprobleme in diesen Bildungssystemen, die genauso einen Einfluss haben.“
Leistungsschwache und Leistungsstarke
Besorgniserregend: Der Anteil der Jugendlichen auf der untersten Kompetenzstufe der sogenannten Risikoschüler nimmt weiter zu. In Mathematik sind das in Deutschland inzwischen 30 Prozent (plus acht Prozentpunkte), beim Lesen 26 Prozent (plus fünf Prozentpunkte), in Naturwissenschaften 23 Prozent (plus ein Prozentpunkt). Diese Jugendlichen können nicht einmal Preise in eine andere Währung umrechnen oder die Hauptaussage eines mittellangen Textes erfassen. Deren Anteil vergrößerte sich in den vergangenen zehn Jahren um 12 Prozentpunkte (Mathematik) beziehungsweise elf Prozentpunkte (Lesen, Naturwissenschaften).
Umgekehrt gehört nicht einmal jeder Zehnte zu den besonders Leistungsstarken, die zum Beispiel komplexe Situationen mathematisch modellieren können. Der Abstand zwischen den Leistungsstarken und -schwachen ist dabei im Vergleich zur vorangegangenen Studie gleich geblieben. Sprich: In der Gesamtschau verschlechterten sich beide Gruppen gleichermaßen.
Bildungsungleichheit höher als im internationalen Vergleich
Dennoch bleibt ein Befund, der sich durch mehr als zwanzig Jahre Pisa-Studie zieht und erneut bestätigt wird: Die Lücke, die zwischen den Leistungen sozial benachteiligter und privilegierter Schüler klafft, ist in Deutschland stärker ausgeprägt als in vielen anderen Staaten.
So erzielte das privilegierteste Viertel der deutschen Jugendlichen im Schnitt 111 Punkte mehr als das Viertel der in Deutschland am stärksten benachteiligten Schüler. Im internationalen Vergleich liegt der Unterschied bei 93 Punkten. Diese Werte zur Bildungsungleichheit sind seit zehn Jahren konstant, in Deutschland wie im internationalen Vergleich.
Einen Hauptgrund für dieses Leistungsgefälle sieht die OECD, die den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Ergebnisse berechnete, in dem sozioökonomischen Unterschied zwischen Schülern. In einigen Staaten wie Deutschland könnten die unterschiedlichen Ergebnisse im Fach Mathematik zu 20 Prozent auf die Lebensverhältnisse der Schüler zurückgeführt werden.
Bildungsgleichheit und gute Leistungen würden dagegen unter anderem im Baltikum, Skandinavien, Korea und Kanada erreicht.
Gravierender Lernrückstand von Schülern mit Migrationshintergrund
26 Prozent der Jugendlichen haben inzwischen einen Migrationshintergrund, der Anteil hat sich seit 2012 verdoppelt. Neun Prozent sind Migranten „erster Generation“, also selber nach Deutschland eingewandert.
Im Vergleich zu ihren Mitschülern schnitten Jugendliche mit Migrationshintergrund, insbesondere der ersten Generation, erneut deutlich schlechter ab. 67 Punkte beträgt ihr Rückstand in der Lesekompetenz, 2018 waren es noch 63 Punkte.
Die Leistungen von Schülern mit Migrationshintergrund erklären die Forschenden nicht nur damit, dass mehr als die Hälfte von ihnen kein oder kaum Deutsch zu Hause sprechen. Sie betonen auch ihren sozioökonomischen Status: Während bundesweit 25 Prozent der Schüler als sozial benachteiligt gelten, liegt ihr Anteil unter Schülern mit Migrationshintergrund bei 42 Prozent.
Geschlechter-Stereotype nicht abgebaut
Im Vergleich zu den Unterschieden zwischen Arm und Reich und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund ist der Geschlechterunterschied gering. Dennoch schneiden Jungen in Mathematik im Schnitt um elf Punkte besser ab als Mädchen, während letztere im Lesen um durchschnittlich 19 Punkte besser sind. Dieser Abstand ist seit zehn Jahren auf einem ähnlichen Niveau.
Schulklima verbessert, Lebensfreude sinkt
Trotz der heftigen Einschränkungen des Schulbetriebs durch die Corona-Pandemie fühlen sich drei Viertel der deutschen 15-Jährigen ihrer Schule zugehörig und sozial gut integriert. Allerdings fühlt sich auch jeder zehnte Schüler einsam oder als Außenseiter. Aggressionen in den Klassen haben im Vergleich zu 2018 leicht abgenommen. Gut ein Fünftel der für die Studie Befragten gibt an, ein oder mehrere Male im Monat gemobbt zu werden, weniger als jeder zehnte nimmt wahr, dass über ihn gelästert wird.
Während das Miteinander an Schulen demnach etwas respektvoller geworden ist, hat sich die individuelle Einstellung der 15-Jährigen zum Leben verschlechtert. Mehr als jeder Fünfte gibt an, mit seinem Leben nicht zufrieden zu sein. Das sind fünf Prozent mehr als noch 2018 und vier Prozent mehr als der internationale Durchschnitt – die Jugendlichen in Deutschland sind also unglücklicher als anderswo.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de