Mehr als 1500 Orte betroffen: Wo „ewige“ Chemikalien Deutschland verseuchen
© picture alliance/dpa/BELGA/David Pintens Mehr als 1500 Orte betroffen: Wo „ewige“ Chemikalien Deutschland verseuchen
Das Problem mit den in der Natur extrem langlebigen Chemikalien ist hierzulande größer als gedacht. Könnten sie in der EU gänzlich verboten werden?
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- Valentin Frimmer, dpa
Man kann sie nicht riechen, schmecken, sehen und sie werden verdächtigt, die Fruchtbarkeit zu beeinträchtigen, Krebs zu verursachen, das Immunsystem zu schwächen und zu Entwicklungsverzögerungen bei Kindern zu führen: per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, kurz PFAS.
Das Problem mit den in der Natur extrem langlebigen „ewigen“ Chemikalien ist auch in Deutschland größer als gedacht. Laut einer Recherche des NDR, WDR und der „Süddeutschen Zeitung“ könnten PFAS an mehr als 1500 Orten hierzulande Boden und Grundwasser verseuchen. Die Medien kritisierten, die Bevölkerung werde oftmals nicht darüber informiert.
„Was wir sehen, ist vermutlich die Spitze des Eisberges“, kommentierte der Präsident des Umweltbundesamtes (Uba) Dirk Messner die Ergebnisse und sprach von einem „wichtigen Beitrag, um das Mosaik weiter zusammenzusetzen“.
Zur Chemikaliengruppe gehören geschätzt mehr als 10.000 Substanzen. Die Stoffe finden sich in zahlreichen Produkten wie Kosmetik, Anoraks oder Pfannen. Sie sind aber auch Teil von Industrieprozessen und technischen Anwendungen.
Belastet. PFAS finden unter anderem über Kläranlagen ihren Weg in Flüsse, Seen und Meere. © dpa/Corinna Schwanhold
In der Öffentlichkeit seien laut der aktuellen Recherche nur einige wenige PFAS-Hotspots bekannt: Felder in Rastatt in Baden-Württemberg, auf denen mutmaßlich belasteter Papierschlamm verteilt wurde, oder der Düsseldorfer Flughafen, wo bei einem Großbrand PFAS-haltiger Löschschaum in Boden und Grundwasser floss.
Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen ließen vermuten, dass in der Nähe von bestimmten Industriestandorten die Gewässer und Böden mit PFAS verunreinigt sein könnten, berichteten die Medien. In verschiedenen US-Staaten und in Frankreich hätten Behörden in der Nähe solcher Standorte ganz gezielt nach PFAS-Rückständen gesucht.
NDR, WDR und „SZ“ nutzten die Kriterien und übertrugen sie „soweit wie möglich auf Deutschland“. So identifizierten sie „hunderte Orte, an denen Boden oder Grundwasser ebenfalls verschmutzt sein könnten“.
Die Medien beteiligten sich am „Forever Pollution Project“, das in ganz Europa mehr als 17.000 möglicherweise mit ewigen Chemikalien belastete Orte identifizierte. Dazu gehören Flughäfen und Militärstandorte, wo früher PFAS-haltiger Löschschaum eingesetzt wurde, Kläranlagen und Deponien.
10.000Substanzen gehören schätzungsweise zur Gruppe der per- und polyfluorierten Chemikalien
Dazu kommen Industrieunternehmen, die PFAS verwenden, etwa die Textilindustrie, die Metallveredelung oder Altpapier verarbeitende Betriebe. Laut des „Forever Pollution Project“ sind die meisten dieser Unternehmen in Deutschland angesiedelt: Solvay in Bad Wimpfen, Daikin in Frankfurt am Main, Lanxess in Leverkusen sowie 3M, W.L. Gore und Archroma im bayerischen Chemiepark Gendorf.
Behörden haben Bevölkerung nicht informiert
Alle Unternehmen versicherten gegenüber den Medien, sie hielten sich an die gesetzlichen Vorschriften und bemühten sich um eine Reduzierung der Schadstoffe. Der US-Technologiekonzern 3M kündigte bereits an, bis Ende 2025 aus der PFAS-Produktion auszusteigen.
NDR, WDR und „SZ“ kritisierten, dass in vielen Verdachtsfällen die Behörden die Bevölkerung vor Ort nicht informiert hätten. Im Hamburger Altlastenkataster seien etwa 50 mit PFAS belastete Flächen erfasst, die Stadt erklärte: „Es gab bisher keine relevante Gefährdung oder direkte Betroffenheit von Bürger*innen durch PFAS kontaminierte Flächen“, die eine Informationspflicht ausgelöst hätte. In Sachsen sollen laut Bericht dieses Jahr bis zu 56 Flächen auf PFAS untersucht werden. Die Bürgerinnen und Bürger wurden nicht aktiv informiert.
Verbot gefordert
Deutschland, Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Schweden fordern ein Verbot der Chemikaliengruppe. Sie reichten dies im Januar bei der EU-Chemikalienagentur ECHA ein. Eine Regelung müsste die EU-Kommission ausarbeiten, die sie dann den Mitgliedstaaten vorschlägt. Mit einer Umsetzung des Verbots wird daher frühestens 2026 gerechnet.
Die fünf europäischen Länder schätzen, dass in den kommenden 30 Jahren mindestens 4,4 Millionen Tonnen PFAS in die Umwelt gelangen, wenn es keine Regelung für die risikoreichen Chemikalien gibt. Unternehmen sollen je nach Verwendungszweck und Verfügbarkeit zwischen anderthalb und zwölf Jahren Zeit bekommen, um ihre Produktion auf alternative Stoffe umzustellen.
Was wir sehen, ist vermutlich die Spitze des Eisberges.
Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes (Uba)
Das extrem breite Verbot ist auch deshalb besonders, weil nur für relativ wenige der Substanzen tatsächlich direkt nachgewiesen ist, dass sie eine Gefahr darstellen. Wegen der enormen Vielfalt an Verbindungen ist ein Großteil der Stoffe bislang noch gar nicht untersucht.
Der Gedanke der Initiatoren: Wenn einige der Substanzen nachweislich schädlich sind, könnten es viele andere, bislang nicht untersuchte Vertreter der Stoffgruppe auch sein.
Besondere Moleküle
PFAS kommen nicht natürlich in der Umwelt vor, sie sind also allesamt künstlich hergestellt. Die PFAS haben gemeinsam, dass sie auf molekularer Ebene aus mehr oder weniger langen Kohlenstoffketten bestehen (darauf bezieht sich die Silbe „Alkyl-“), bei denen Wasserstoffatome ganz (per-) oder teilweise (poly-) durch Fluoratome ersetzt sind (-fluoriert).
4,4 Millionen Tonnen PFAS könnten in den kommenden 30 Jahren in die Umwelt gelangen
PFAS werden auch als Ewigkeitschemikalien bezeichnet, weil sie in der Umwelt nur sehr langsam abgebaut werden. „Je nach Stoff überdauern sie mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte in der Umwelt“, sagte Wiebke Drost, PFAS-Expertin beim Uba.
Begehrte Eigenschaften
Die Stoffe sind chemisch stabil, auch große Hitze mache ihnen nichts aus. Zudem haben sie eine sehr niedrige Oberflächenspannung und sind dadurch sowohl öl- als auch wasserabweisend. Ferner gelten sie als sehr belastbar und haben eine hohe Abrieb- und Verschleißbeständigkeit.
Einsatzbereiche
PFAS haben einen sehr breiten Anwendungsbereich. Sie kommen in Produkten wie Shampoos, Jacken, Pizzakartons oder Pfannenbeschichtungen vor. Aber auch in industriellen Prozessen spielen sie eine große Rolle.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) nennt zwölf Branchen, die von einem Verbot betroffen wären. Darunter die Halbleiterfertigung, die Herstellung von Lithium-Ionen-Batterien und Brennstoffzellen, die Automobil- und Elektroindustrie, die Textilindustrie sowie der Maschinen- und Anlagenbau.
PFAS sind wasserabweisend und werden bei der Herstellung von etwa Regenjacken genutzt. © exclusive-design – stock.adobe.com/stock.adobe/exclusive-design
PFAS in der Umwelt
PFAS können laut Uba beispielsweise durch die Abluft von Industriebetrieben in Böden und Gewässer gelangen. Da PFAS auch in Alltagsprodukten enthalten sind, treten sie auch in der Raumluft auf. Über Kläranlagen finden einige PFAS ihren Weg in Flüsse, Seen und Meere.
Über die Luft und über das Wasser gelangen sie demnach in entlegene Gebiete. So findet man die Stoffe beispielsweise auch bereits an den Polen der Erde.
Eine Studie aus dem vergangenen Jahr ergab, dass PFAS selbst in den entlegensten Weltregionen im Regenwasser nachweisbar sind – und zwar in Konzentrationen, die die Schwellenwerte der US-Umweltbehörde um ein Vielfaches überschreiten.
Wenn wir darauf warten, bis die Toxizität für jeden einzelnen Stoff nachgewiesen ist, kann es zu spät sein.
Wiebke Drost, PFAS-Expertin beim Umweltbundesamt
In einer anderen Studie wurde die Übertragung polyfluorierter Chemikalien von Speisefisch auf den Menschen nachgewiesen. Wer einen Süßwasserfisch isst, der in einem Fluss oder See in den USA gefangen wurde, nimmt eine so große Menge PFAS auf, als würde er einen Monat lang stark belastetes Wasser zu sich nehmen, schrieb das Forschungsteam.
In den USA wurde die Übertragung polyfluorierter Chemikalien von Speisefisch auf den Menschen nachgewiesen. © AFP
„Mit der Aufnahme von PFAS aus verunreinigten Böden und Wasser in Pflanzen und der Anreicherung in Fischen werden diese Stoffe auch in die menschliche Nahrungskette aufgenommen“, so das Uba. Menschen können PFAS zudem über die Luft und Trinkwasser aufnehmen.
Die Gefahr
Einige PFAS sind bereits weitgehend verboten, weil sie als gefährlich gelten. „Von den relativ wenigen gut untersuchten PFAS gelten die meisten als mittel- bis hochtoxisch, vor allem für die Entwicklung von Kindern“, schreibt die Europäische Umweltagentur (EEA). Insgesamt sind rund ein Dutzend Einzelstoffe oder kleine Stoffgruppen reguliert. Die bekanntesten davon sind Perfluoroktansäure (PFOA) und Perfluoroktansulfonsäure (PFOS).
Studien ließen darauf schließen, dass PFOS und PFOA unter anderem eine verringerte Antikörperantwort auf Impfungen bewirken können. Zudem gibt es laut der Uba „eindeutige Hinweise“ auf einen Zusammenhang zu erhöhten Serumspiegeln von Cholesterin.
Ein erhöhter Cholesterinspiegel gilt als Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall. Laut EEA werden PFOA und PFOS auch mit Leberschäden sowie Nieren- und Hodenkrebs in Verbindung gebracht. Auch negative Auswirkungen auf Tiere und Pflanzen werden angenommen. Verdächtigt werden sie auch, die Fruchtbarkeit zu beeinträchtigen.
PFAS werden auch als Ewigkeitschemikalien bezeichnet, weil sie in der Umwelt nur sehr langsam abgebaut werden. © picture alliance/dpa/BELGA/David Pintens
Das Risiko
Von den allermeisten PFAS weiß man nicht, wie sie auf Mensch und Umwelt wirken. Viele Fachleute gehen aber davon aus, dass zumindest ein Teil davon negative Eigenschaften hat. „Es gibt Hinweise, dass auch andere PFAS gefährlich sind“, sagt Uba-Expertin Drost.
Sie sieht den Bedarf, schnell zu handeln. „Wenn wir darauf warten, bis die Toxizität für jeden einzelnen Stoff nachgewiesen ist, kann es zu spät sein.“ Schließlich reicherten sich die PFAS in der Umwelt an und seien dort nicht oder kaum mehr herauszubekommen.
Der Vorstoß
Ein Problem bislang: Wird eine einzelne Substanz verboten, kann die Industrie sie durch einen ähnlichen, noch nicht regulierten Stoff ersetzen. Diese können aber genauso gefährlich oder gar gefährlicher sein als die ursprüngliche Substanz. Fachleute sprechen dann von Regrettable Substitution (auf Deutsch: bedauerlicher Ersatz).
Deshalb haben EU-Behörden vorgeschlagen, die Herstellung, Verwendung und das Inverkehrbringen von PFAS fast komplett zu verbieten. Befürwortern wie Gegnern zufolge wäre ein solches Verbot ein bislang einmaliger Vorgang, weil Tausende Einzelstoffe und alle ihre Anwendungen betroffen wären. Aus Deutschland sind die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und das Uba beteiligt.
Die drei Medien haben mehrere hundert Industriestandorte, Kläranlagen, Deponien, Flughäfen und Militärgelände identifiziert, bei denen die Gefahr besteht, dass auch hier Böden und Gewässer verunreinigt sein könnten. © imago/blickwinkel/IMAGO/W. Pattyn
Der Vorschlag sehe je nach Anwendung Übergangsfristen von eineinhalb bis dreizehneinhalb Jahren vor, schreibt die BAuA. Für einige wenige Bereiche seien unbegrenzte Ausnahmen vorgesehen. „Dies betrifft zum Beispiel Wirkstoffe in Pflanzenschutzmitteln, Biozidprodukten und Human- sowie Tierarzneimitteln.“
Kritik
Die Industrie würde ein Totalverbot vor große Herausforderungen stellen. „Entspannt ist momentan wirklich niemand“, sagte Mirjam Merz, Expertin für Chemikalienpolitik und Gefahrstoffrecht beim BDI. Für manche Technologien seien PFAS unersetzlich. So brauche man für viele Industrieprozesse etwa extrem stabile Anlagenteile wie zum Beispiel Dichtungen.
Auch bei Halbleitern, Lithiumionenbatterien oder Brennstoffzellen gebe es derzeit keine Alternativen. „Es scheint wenig Verständnis für die Probleme der Industrie zu geben“, beklagt Merz. Zudem sei unklar, was ein Totalverbot für Verbraucher heiße, schließlich seien PFAS in jedem Handy und jedem Auto unverzichtbar.
Zu den mit ewigen Chemikalien belasteten Orte gehören auch Flughäfen. © dpa/Sven Hoppe
Dabei sehe der BDI durchaus, dass einzelne Substanzen toxisch seien und reguliert werden müssen. „Es ist richtig zu reagieren, wo es ein Risiko gibt“, sagt Merz. Ein komplettes Verbot geht aus BDI-Sicht aber zu weit, da dann auch viele Anwendungen untersagt wären, von denen gar keine Gefahr ausgehe.
„Als Kompromissvorschlag könnte diskutiert werden, kleinere Stoffgruppen von PFAS zu bilden und deren Toxizität aufgrund eines typischen Vertreters zu testen. Auf dieser Grundlage könnte dann diese Untergruppe reguliert werden – oder auch nicht.“
Die Industrie sortiert sich noch
Was könnte im schlimmsten Fall passieren? „Ich gehe davon aus, dass die Auswirkungen der Beschränkung für viele Industriezweige erheblich wären“, sagt Merz. Derzeit werde in den Branchen noch geprüft, welche Bedeutung ein breites Verbot der PFAS im Detail hätte.
„Die Unternehmen wissen teils selbst noch nicht, inwieweit sie betroffen sind“, sagt Merz. Bei zugelieferten Produkten stehe möglicherweise gar nicht drauf, ob oder welche PFAS enthalten sind. „Das macht es für Unternehmen besonders schwierig.“
Der Fahrplan
Erfüllt der Antrag alle Formalitäten, sollen am 22. März öffentliche Konsultationen starten. Für diesen Prozess sind sechs Monate eingeplant. Dabei können sich beispielsweise Industrievertreter für Ausnahmen starkmachen. „Der BDI ruft seine Unternehmen auf, daran teilzunehmen“, sagt Merz. Uba-Vertreterin Drost hält es für „schwer abschätzbar“, ob die Vorschläge für ein Totalverbot noch aufgeweicht werden. Bei den Übergangsfristen könne es sowohl laxer als auch strenger werden, sagt sie.
Mithilfe der Konsultationen machen sich zwei verschiedene Gremien der Europäischen Chemikalienagentur ein Bild und formulieren Empfehlungen. Der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) hat dabei mehr die Risiken für Mensch und Natur im Blick, der Ausschuss für sozioökonomische Analyse (SEAC) eher Nutzen und Kosten für die Gesellschaft. Die Entscheidung trifft am Ende die Europäische Kommission gemeinsam mit den EU-Mitgliedsstaaten. (mit AFP, dpa)
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de