„Keine Vorverurteilung“ von Graichen: So erklärt Habeck sein Schweigen zum Compliance-Fall
© picture alliance / Flashpic/Jens Krick Exklusiv „Keine Vorverurteilung“ von Graichen: So erklärt Habeck sein Schweigen zum Compliance-Fall
Der Wirtschaftsminister legte noch am 10. Mai für seinen Staatssekretär die Hand ins Feuer. Was wusste er zu diesem Zeitpunkt von Graichens Förderung für einen Verein, in dem dessen Schwester im Vorstand sitzt?
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„Es ist der eine Fehler zu viel.“ Mit diesen Worten wollte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor rund zwei Wochen einen Haken unter die Affäre um seinen Staatssekretär Patrick Graichen setzen – und kündigte an, ihn in den einstweiligen Ruhestand zu schicken.
Nach dem Ärger um Graichens Trauzeugen, den dieser zum Chef eines bundeseigenen Unternehmens befördern lassen wollte, sei „ein Sachverhalt aufgetaucht“, sagte Habeck damals.
Der nunmehr Ex-Staatssekretär hatte am 30. November vergangenen Jahres die Vorlage und eine Liste mit drei Projektskizzen für eine sogenannte Aufforderung zur Antragstellung gebilligt, eine Vorstufe für konkrete Förderanträge. Ein Antrag – Fördersumme knapp 600.000 Euro – betraf die Berliner Sektion des Umweltverbands BUND. Dort sitzt seine Schwester Verena Graichen im Vorstand.
Ein neuer Vorfall, ein Fehler zu viel – so wirkte es
Ein neuer Vorfall, ein Fehler zu viel. Klingt nachvollziehbar. So sollte es wirken, so wirkte es. Habeck, der sich sieben Tage zuvor noch geweigert hatte, „Menschen zu opfern“, opferte. Graichen musste gehen. In vielen Medienkommentaren hieß es, der Minister habe jetzt, mit „Auftauchen“ des neuen Vorfalls, keine Wahl mehr gehabt.
In der vorläufigen Ersteinschätzung vom 9.5.2023 blieb die genau Rolle von Verena Graichen offen.
Eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums zur Prüfung des Compliance-Falls
Damit könnte man die Angelegenheit auf sich beruhen lassen – wenn Habeck nicht in seiner umständlichen Entlassungsrede eine Frage aufgeworfen hätte, die er seitdem unbeantwortet lässt:
Seit wann wusste sein Ministerium, seit wann wusste der Minister selbst von Graichens Förderung für einen Graichen-Verein? Und warum hat Habeck darüber erst am 17. Mai Transparenz hergestellt – und nicht schon am 10. Mai, als er seinen Spitzenbeamten im Bundestag noch vor allen Vorwürfen in Sachen Vetternwirtschaft in Schutz genommen hatte?
Die Erklärungen des Ministeriums dazu sind kompliziert. Graichen, heißt es, sei am 9. Mai, dem Tag vor Habecks Auftritt im Parlament, in der Sache zunächst noch „entlastet“ worden. „Keine rechtlichen Fehler“, so lautete nach Angaben des Ministeriums das vorläufige Ergebnis der damals „noch nicht abgeschlossenen Prüfung“.
Dass in Graichens Unterschrift zugunsten des BUND Berlin e.V. ein Compliance-Verstoß lag, also eine Verletzung der hauseigenen Regeln, das habe man erst Tage später festgestellt: Nach einer „tieferen Prüfung“, bei der sich die vorläufige Einschätzung geändert habe.
Patrick Graichen, ehemals Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. © dpa/Kay Nietfeld
Dass Habeck den Vorgang, versehen mit dem vorläufigen Prüfsiegel „entlastet“, nicht schon am 10. Mai im Bundestag offenbarte, rechtfertigt der Minister auf Tagesspiegel-Anfrage jetzt so: „Als oberster Dienstherr“ sei es ihm verboten gewesen, über „nicht abgeschlossene Sachverhalte“ zu spekulieren. Er habe „keine Vorverurteilungen“ provozieren wollen, „die niemals mehr hätten zurückgeholt werden können“.
Vorverurteilungen? Nicht abgeschlossene Sachverhalte? Eher darf wohl erstaunen, dass Habeck sich an jenem 10. Mai schützend vor seinen öffentlich umstrittenen Beamten stellte – obwohl er doch zumindest ahnen musste, dass die nächste Enthüllung droht. Doch was wusste Habeck genau am 9. Mai – und was hätte er wissen können?
Zu Graichens Reaktion gibt es keine Auskunft. Datenschutz, heißt es.
Das Wirtschaftsministerium weicht der Frage nach damaligen amtlichen Kenntnissen über die Funktion der Graichen-Schwester beim BUND Berlin auch nach mehreren Durchgängen immer wieder aus. Es sagt nur etwas zu den Formalien der amtlichen Compliance-Prüfung: In der an Habeck vermittelten „ersten kursorischen Einschätzung“ sei die „genaue Rolle“ von Verena Graichen beim BUND Berlin „offen geblieben“.
Auf Anfrage stellt das Ministerium jedoch zugleich klar, Habeck habe seinen Staatssekretär bereits am 9. Mai direkt auf den „in Prüfung befindlichen Sachverhalt“ angesprochen.
Was wurde besprochen? Spätestens bei diesem Gespräch hätte die Rolle von Verena Graichen – bis Mai 2022 Berliner Landeschefin beim BUND Berlin, danach immer noch Mitglied im Landesvorstand – doch auf den Tisch kommen müssen. Zudem hätten Habecks Beamte oder sogar er selbst der Website des BUND Berlin entnehmen können, dass die Schwester weiterhin im Vorstand ist.
War auch der mögliche Verstoß als solcher schon Thema der beiden? Und wie hat Graichen sich gerechtfertigt? Zur Reaktion des Staatssekretärs im Minister-Gespräch wird keine Auskunft erteilt – mit Blick auf beamtenrechtliche Verfahren sei das nicht möglich, „aus Personendatenschutzgründen“. Gegen Graichen könnte es noch ein Disziplinarverfahren geben.
„Das Ministerium ist vor solchen Fällen gewappnet“, hatte Habeck im Bundestag behauptet
Wenn Habeck schon vor oder unmittelbar nach diesem Gespräch um die Funktionen der Schwester beim BUND Berlin gewusst hat, konnte er die ihm am 9. Mai mündlich überbrachte Bewertung des Sachverhalts als „entlastend“ kaum geteilt haben – zumal ein „Vermerk des Compliance-Referats“ ausdrücklich regelt, dass Vergabefälle für den BUND e.V. „nicht über den Schreibtisch von Patrick Graichen“ gehen dürfen.
Dennoch erweckte der Minister trotz des noch laufenden Prüfverfahrens am 10. Mai im Parlament den Eindruck, ein derartiger Verstoß sei faktisch ausgeschlossen.
Der Anschein von Parteilichkeit sollte vermieden werden, ergab die Prüfung. Warum erst so spät?
Auf „Grenzüberschreitungen“ und „Interessenkonflikte“ aufgrund familiärer Verflechtungen ging Habeck zu Graichens Verteidigung bei jenem Auftritt sogar noch gesondert ein: „Personell wie inhaltlich ist das Ministerium vor solchen Fällen insgesamt gewappnet“, sagte er. Mit Blick auf Habecks mutmaßliches Wissen über das nächste Compliance-Problem eine mehr als gewagte Behauptung.
Woran das Ministerium später, nach „vertiefter Prüfung“, den Regelverstoß festmacht, den es vorher nicht als solchen erkannt haben will, bleibt unscharf. Die frühere Rolle von Verena Graichen als BUND-Landeschefin sei „unter Compliance-Gesichtspunkten bewertet und eingeschätzt“ worden, woraufhin dann, am Abend des 16. Mai, „insgesamt“ ein Verstoß festgestellt wurde.
600.000Euro beträgt die geplante Projektförderung für den BUND Berlin e.V., die Patrick Graichen abzeichnete.
Offenbar ist es auch so, dass die Prüfer die Compliance-Vorgaben für Graichen zunächst nicht auf die einzelnen Landesverbände des BUND beziehen wollten. Habeck selbst deutete eine solche Rechtfertigung an, als er zum aufgetauchten „Sachverhalt“ am 17. Mai erklärte: „Es ist der Landesverband, nicht der Bundesverband“.
Zudem bestand der Minister auch noch in seiner Erklärung vom 17. Mai darauf, dass trotz Graichens Unterschrift unter die Förder-Vorlage – „wie von den Compliance-Verfahren vorgesehen“ – bisher keine Entscheidungen über Zuwendungen an den BUND e.V. unter Beteiligung von Staatssekretär Graichen getroffen worden seien – er räumte jedoch zugleich ein: „Die finale Förderentscheidung“ sei mit Graichens Unterschrift „im Prinzip nur noch eine Formsache“.
Es soll so aussehen, als ob die Compliance-„Brandmauer“ gehalten hätte
Nach außen soll es also weiterhin so aussehen, als ob die gegen Vetternwirtschaft eingezogenen Compliance-„Brandmauer“ im Ministerium gehalten hätte – auch wenn sie, so Habeck am 17. Mai, Risse zeige.
Dem Ministerium zufolge will man dann erst am Ende der „vertieften Prüfung“ erkannt haben, dass bei solchen Vergaben „schon der Anschein der Parteilichkeit“ vermieden werden müsse.
Und welcher Anschein bestand am 9. Mai? Möglicherweise einer, den Habeck weder übersehen noch übergehen konnte – und über den er am Tag darauf im Parlament trotzdem kein Wort verlor.
- Robert Habeck
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de