Kein Gehirn, aber lernfähig: Die erstaunlichen Fähigkeiten einfacher Seeanemonen
© Gaëlle Botton-Amiot Kein Gehirn, aber lernfähig: Die erstaunlichen Fähigkeiten einfacher Seeanemonen
Sie haben zwar ein paar Nervenzellen, aber ein Gehirn fehlt Seeanemonen. Und dennoch können sie lernen, haben Biologen jetzt entdeckt.
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Was ist die Grundvoraussetzung, um etwas lernen zu können? Ein Gehirn, würde man annehmen. Oder zumindest ein Haufen Nervenzellen, die äußere Reize, etwa so schmerzvolle wie von der heißen Herdplatte, in Form einer Erinnerung speichern und das Verhalten beim nächsten Mal hautfreundlicher gestalten können.
Doch jetzt haben Biologen der Schweizer Universität Freiburg festgestellt, dass auch Seeanemonen, die weder Gehirn, noch Nervenzellhaufen haben, lernen können. So wie der berühmte Verhaltensforschers Iwan Pawlow Hunden beibringen konnte, dass es beim Glockenton Futter gibt, konditionierte das Forschungsteam von Simon Sprecher von der Universität Fribourg Seeanemonen der Art Nematostella vectensis.
Sie bestrahlten zehn Anemonen mit Licht und gaben ihnen kurz darauf einen leichten Stromstoß (sechs Volt), woraufhin die Tiere blitzartig ihre Tentakeln zurückzogen. Nach ein paar Trainingsrunden reichte bei den meisten (bis zu 72 Prozent) schon der Lichtreiz aus, um die Schutzreaktion auszulösen. Die Anemonen hatten also den Zusammenhang gelernt, ähnlich wie Pawlows Hunden in Erwartung von Futter das Wasser im Mund zusammenlief, sobald die Glocke ertönte. Bei einer Gruppe von 18 Seeanemonen, bei der die Biologen mehr Zeit zwischen Licht- und Stromreizen vergehen ließen, blieb der Lerneffekt aus.
Seeanemonen gehören zu den Nesseltieren, der Schwestergruppe der Bilateria (den links/rechts-symmetrischen), zu denen die meisten Tierarten gehören. © Gaëlle Botton-Amiot
Bislang gingen Biologen davon aus, dass es für solche Lernleistungen mindestens ein Nervensystem geben muss. Allerdings gab es auch nur wenige, kaum ernsthafte Versuche, Schwämmen, Quallen, Korallen oder Seeanemonen Kunststücke beizubringen. Zwar besitzen Seeanemonen Nervenzellen, allerdings sind diese nur in einem diffusen Nervennetz miteinander verbunden. Eine gehirnähnliche Struktur haben sie nicht.
Nun, da gezeigt ist, dass sie lernfähig sind, könnten sie ein interessantes Studienobjekt sein, um herauszufinden, wie Lernen auch ohne Gehirn funktioniert und warum sich die komplexen energiehungrigen Organe dennoch bei so vielen Tierarten entwickelt haben.
Die Entdeckung von Lernfähigkeit bei Seeanemonen könne bedeuten, so Sprechers Team im Fachblatt „PNAS“, dass sich das assoziative Lernverhalten schon entwickelt hat, bevor die Evolution Tiere mit zentralisierten Nervensystemen oder gar Gehirnen hervorgebracht hat. Sprecher und Kolleg:innen schlagen vor, nun zu erforschen, ob in Seeanemonen die gleichen grundlegenden molekularen Mechanismen das Lernen ermöglichen wie beim Menschen, also etwa Stoffe wie Serotonin, cAMP oder Dopamin, die die Reizübertragung modulieren.
Womöglich seien Seeanemonen fähig zum „verkörperten Lernen“, schreiben die Forscher, „Kognition ohne zentrales Gehirn“. Das werfe „faszinierende Fragen zur Verarbeitung, Speicherung und zum Abruf gelernter Assoziationen bei diesen Tieren auf.“
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de