„Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“: Ein Rechtsstaat sollte keine Unschuldigen bestrafen
© picture alliance / dpa-tmn „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“: Ein Rechtsstaat sollte keine Unschuldigen bestrafen
Der Präsident hat sie gerügt, der Justizminister will sie weghaben: Die neuen Regeln zur Wiederaufnahme von Strafprozessen sind ein Sündenfall. Ein Kommentar.
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Abseits des breiten Interesses hat sich im deutschen Strafrecht Fundamentales ereignet. Es trat eine Vorschrift in Kraft, die es erlaubt, einmal freigesprochene Mörder erneut anzuklagen, wenn neue Beweise gegen sie auftauchen. Das klingt nach mehr Gerechtigkeit. Es führt aber zu weniger Recht: Die Rechtskraft eines Freispruchs wird dadurch unter Vorbehalt gestellt.
Gerecht ist das Gesetz allein gegenüber Schuldigen, die zu Unrecht freigesprochen wurden. Gegenüber Unschuldigen, die zu Recht freigesprochen wurden, ist es dagegen ein juristischer Sündenfall. Unschuldige, die ein solches Verfahren mit einem Freispruch glücklich überstanden haben, müssen den Rest ihres Lebens fürchten, erneut vor Gericht gestellt zu werden. Für sie wird der Rechtsstaat unberechenbar.
Eine Boulevardzeitung trieb die Politik vor sich her
Es spricht Bände, wie dieser zweite Aspekt bei dem „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ unter den Tisch gefallen ist. Das angebliche Gerechtigkeitsgesetz war ein Projekt, dem sich sogar die Exekutive verweigert hatte. Dem SPD-geführten Justizministerium war es zu heikel. Durchgefochten haben es Abgeordnete von Union und SPD, weil der Mord an Frederike von Möhlmann im Jahr 1981 bis heute ungesühnt ist, obwohl DNA-Spuren zu einem seinerzeit Freigesprochenen führen. Ein schrecklicher, ein trauriger Fall, den eine Boulevardzeitung immer wieder thematisierte und die Politik vor sich hertrieb.
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hätte das Gesetz stoppen können, wenn es aus seiner Sicht evident verfassungswidrig gewesen wäre. Hat er aber nicht. Dafür hat er seine umfassenden Bedenken zu Protokoll gegeben. Wäre er nicht Schlossherr im Bellevue, sondern Richter in Karlsruhe, wäre klar, wie er den Fall entscheiden würde. Mit dem Votum des Staatsoberhaupts im Rücken hat nun auch der neue Justizminister Marco Buschmann (FDP) angeregt, sich die Sache erneut vorzunehmen. Soll heißen: Das Parlament soll das Gesetz kassieren.
Politik muss nicht alles machen, was das Grundgesetz gerade noch erlaubt
Strafrecht, so steht es im aktuellen Koalitionsvertrag, soll wieder „Ultima Ratio“ werden, das letzte Mittel. Eine Expansion der Strafbarkeit, eine Belastung rechtsstaatlicher Grundsätze, wie sie sich aus dem Gerechtigkeitsgesetz ergibt, verträgt sich damit nicht. Neue Mehrheiten im Bundestag werden auch gewählt, damit sie die Fehler der alten korrigieren können. Hier liegt einer vor, und zwar unabhängig davon, wie das Bundesverfassungsgericht am Ende urteilt.
Das neue Gesetz verspricht wenig Gewinn und verursacht große Verluste. Politik muss nicht alles machen, was das Grundgesetz gerade noch erlaubt. Hier hat das Parlament die Beherrschung verloren. Zeit, sie wiederzufinden.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de