Fußball in Zeiten des Krieges: Die Ukraine und ihre Sehnsucht nach etwas Normalität

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Fußball in Zeiten des Krieges: Die Ukraine und ihre Sehnsucht nach etwas Normalität

© IMAGO/Ukrinform Fußball in Zeiten des Krieges: Die Ukraine und ihre Sehnsucht nach etwas Normalität

An diesem Montag tritt die Ukraine zum Fußball-Länderspiel gegen Deutschland an. Obwohl sich das Land im Krieg befindet, läuft der Fußballbetrieb weiter.

Von Denis Trubetskoy

Vor einer Woche ist die bizarrste Saison in der Geschichte der ukrainischen Premjer-Liha zu Ende gegangen. Das Land ist von Russland überfallen worden, es befindet sich weiterhin im Krieg. Wie soll man da überhaupt Fußball spielen? Es geht – und das sogar durchaus erfolgreich, wie Oleh Schtscherbakow findet.

„Es war eine ziemlich normale Spielzeit, gerade im Vergleich zu Corona“, sagt der Chefredakteur des ukrainischen Sportmediums „Ua.Tribuna.Com“. „Unter diesen Umständen ist das schon sehr viel.“ Es gab Luftalarme, einige Spiele mussten für mehr als fünf Stunden unterbrochen werden. Ein gutes Dutzend von Partien wurde verlegt, und auch die Logistik war oft alles andere als einfach.

„Doch es war ein guter Versuch. Auf dieser Grundlage kann man nun weiter aufbauen“, findet Schtscherbakow. „Denn der Krieg wird vermutlich noch lange weitergehen.“

Als die Ukraine 2014 zum ersten Mal von Russland überfallen wurde, war das bereits ein harter Schlag auch für den ukrainischen Fußball. Starke Teams aus dem russisch besetzten Teil der Ostukraine wie Schachtar Donezk oder Sorja Luhansk mussten dauerhaft ihre Heimat verlassen. Erstligavereine von der Krim, der FC Sewastopol und Tawrija Simferopol, der erste Meister der unabhängigen Ukraine, existierten nicht mehr. Es stand weniger Geld zur Verfügung, und in der Folge kamen auch weniger ausländische Spieler ins Land.

200Menschen dürfen ins Stadion, allerdings keine Fans.

Doch der Fußball in der Ukraine hat diesen Schlag ausgehalten: Topklubs wie Dynamo Kiew und Schachtar konnten trotz allem international ordentlich mithalten, die Nationalmannschaft schaffte es bei der Europameisterschaft 2021 immerhin bis ins Viertelfinale.

Noch dramatischer waren die Folgen nach der großangelegten russischen Invasion am 24. Februar 2022. An Fußball war erst einmal nicht mehr zu denken. Die nationale Liga musste ihren Spielbetrieb umgehend einstellen. Die Vereine haben zum einen ihre Spieler in Sicherheit gebracht und zum anderen die ukrainische Armee unterstützt.

Die vielleicht prominenteste Geschichte in diesem Zusammenhang war die des ukrainischen Trainers Jurij Wernidub, der noch am 24. Februar Sheriff Tiraspol aus dem international nicht anerkannten Transnistrien in der Europa League betreut hatte und sich gleich darauf auf dem Weg in seine Heimat machte, um dort der Armee beizutreten.

Knapp 16 Monate sind seitdem vergangen. An diesem Montag bestreitet die ukrainische Nationalmannschaft in Bremen nicht nur ein Testspiel gegen Deutschland (18 Uhr, live im ZDF). Auch im Leben der Ukrainer ist der Fußball wieder präsent – als Teil einer komischen Doppelrealität, in der die Menschen im Hinterland bei Tageslicht ein anscheinend halb normales Leben führen, während in der Nacht stets der russische Drohnen- und Raketenbeschuss erfolgt. Es gibt zwar keine Garantie, dass Kiew oder Lwiw nicht auch tagsüber beschossen werden, doch zuletzt geschah das vor allem tief in der Nacht, was wohl Teil der psychologischen Kriegsführung Russlands ist.

Fußball als Teil einer seltsamen Doppelrealität

Trotzdem wird aktuell viel darüber diskutiert, ob man nicht zumindest wieder eine begrenzte Zahl von Zuschauern in die Stadien lassen solle. Die meisten Vereine verweisen darauf, dass auch kleinere Konzerte oder Theatervorstellungen wieder stattfinden, unter Einhaltung bestimmter Sicherheitsregeln natürlich.

In den Fußballstadien sind hingegen höchstens 200 Menschen zugelassen, Fans jedoch nicht. Die volle Auslastung der Arenen ist nicht zu erwarten, da Luftschutzkeller nur über eine begrenzte Kapazität verfügen. Doch mit einer gewissen Fanpräsenz ist in der nächsten Spielzeit tatsächlich zu rechnen.

Im Krieg gibt es wichtigere Dinge als Fußball, aber die Nationalmannschaft ist für dieses Land gerade in solchen Zeiten etwas ganz Besonderes.

Maksym Krawez, ukrainischer Fußball-Experte.

Wie aber kann der Fußball überhaupt funktionieren, wenn jederzeit, und das nicht nur in Frontnähe, sondern an jeder Ecke des Landes, eine russische Rakete einschlagen kann? Als das Büro des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Sommer 2022 hartnäckig darauf beharrte, die kommende Ligasaison in der Ukraine auszutragen, stieß diese Idee zunächst auf große Skepsis. Aber die Austragung auf heimischem Boden und nicht etwa – wie spekuliert – in Polen sollte ein Zeichen der Ermunterung und Ausdruck einer gewissen Normalität sein.

Allerdings blieb eine Menge von Fragen: Haben alle Stadien einen passenden Luftschutzkeller in der Nähe? Droht der Liga nicht durch unvorhersehbare Luftalarme das totale Chaos? Sind Liveübertragungen der Spiele aus Sicherheitsgründen überhaupt tragbar? Und sind die logistischen Herausforderungen für Teams, die im Europapokal spielen, die aber wegen des geschlossenen Luftraums nicht von Kiew oder Lwiw aus losfliegen können, nicht doch zu groß?

Die Klubs setzen auf den eigenen Nachwuchs

Sportlich gesehen hat der Krieg die ukrainische Liga viel unberechenbarer gemacht. Weil zwar nicht alle, aber doch die meisten ausländischen Fußballer die Premjer-Liha verlassen haben, setzen nun auch die größeren Vereine verstärkt auf die eigene Jugend.

Viele haben daher vor der Saison erwartet, dass Dynamo Kiew, das den ohnehin aus Ukrainern bestehenden Kern des Teams aus der Vorkriegszeit zusammenhalten konnte, eindeutiger Favorit auf den Meistertitel sein würde. Der Traditionsklub aber beendete die Saison weit abgeschlagen auf Rang vier und enttäuschte auf allen Ebenen.

Dass Schachtar Donezk den Titel holte, mag auf den ersten Blick wenig überraschend erscheinen, schließlich hat der Verein den ukrainischen Fußball in den vergangenen Jahren dominiert. Doch anders als Dynamo hatte Schachtar einen deutlich größeren personellen Umbruch erlebt. Zudem hatten auch Dnipro-1 und Sorja Luhansk im Laufe der Spielzeit realistische Chancen auf den Titel. „Das war eine erfrischend offene Saison mit viel Konkurrenz – und ausnahmsweise mal nicht nur zwischen Dynamo und Schachtar“, sagt Oleh Schtscherbakow von „Ua.Tribuna.Com“.

Jedes Spiel wird durch einen Soldaten angestoßen

Der Krieg aber macht sich in der ukrainischen Liga nicht nur durch Luftalarme und fehlende Zuschauer bemerkbar. Jedes Spiel wird von einem Soldaten angestoßen, der meist entweder verletzt oder für ein paar Tage auf Heimaturlaub ist.

Es ist eine Tradition, die bei den ukrainischen Fans, von denen viele selbst an der Front kämpfen, auf viel Wohlwollen stößt. Und es gehört zum guten Ton für Spieler und Trainer, immer wieder zu betonen, dass der Fußball aktuell bei weitem nicht das Wichtigste sei und man überhaupt nur dank der ukrainischen Armee wieder über Fußball sprechen könne.

Fußball in Zeiten des Krieges: Die Ukraine und ihre Sehnsucht nach etwas Normalität

Serhij Rebrow ist in dieser Woche als neuer ukrainischer Nationaltrainer offiziell vorgestellt worden. © IMAGO/Avalon.red

Der neue Nationaltrainer Serhij Rebrow, der gegen Deutschland sein Debüt feiern wird, ist da keine Ausnahme. Als er in dieser Woche offiziell vorgestellt wurde, lauteten seine ersten Worte: „Ich will mich zuerst bei den ukrainischen Streitkräften bedanken, dass sie unsere Unabhängigkeit sorgfältig verteidigen und dass der Fußball deswegen überhaupt noch ein Thema ist.“

Rebrows Verpflichtung als Nationaltrainer ist ein weiteres Zeichen der Hoffnung. Mehr als 600 Tage hat der ukrainische Fußballverband an diesem Deal gearbeitet. Der 49-Jährige, der einst bei Dynamo Kiew zusammen mit Andrij Schewtschenko ein legendäres Sturmduo gebildet hat, der aber auch bei Tottenham Hotspur erfolgreich war, zählt nicht zu Unrecht zu den besten und modernsten Fußballlehrern der Ukraine, auch dank seiner Erfahrungen im Ausland.

So hat Ferencvaros Budapest mit ihm als Trainer erstmals seit 25 Jahren den Einzug in die Gruppenphase der Champions League geschafft. Auch bei Dynamo Kiew war Rebrow – zwischen 2014 und 2017 – bereits Cheftrainer. Und trotz der chaotischen Zustände in der Führung des Klubs erreichte die Mannschaft erstmals nach fast 20 Jahren wieder die K.-o.-Phase der Champions League. Das war Dynamo zuletzt mit Kulttrainer Walerij Lobanowskyj gelungen.

Fußball in Zeiten des Krieges: Die Ukraine und ihre Sehnsucht nach etwas Normalität

70 Millionen Euro hat der FC Chelsea für Mychajlo Mudryk (r.) an Schachtar Donezk gezahlt. Angeblich kann die Ablöse sogar noch auf 100 Millionen Euro ansteigen. © IMAGO/MB Media Solutions

Mit Rebrow verbindet sich auch bei der ukrainischen Nationalmannschaft die Hoffnung auf eine neue, erfolgreiche Ära. Die Zusammensetzung des Teams hat sich durch den Krieg massiv verändert: Anders als früher stellen Schachtar und Dynamo nur noch wenige Spieler. Die meisten sind inzwischen im Ausland aktiv. Und dabei geht es nicht nur um Stars wie Mychajlo Mudryk, der im Januar für 70 Millionen Euro zum FC Chelsea gewechselt ist. Es geht auch um Spieler, die beispielsweise in Polen unter Vertrag stehen.

Das bekannteste Gesicht des Teams, Oleksandr Sintschenko vom FC Arsenal, wird zwar in Bremen aufgrund einer Verletzung fehlen, „es ist trotzdem eine schlagkräftige Truppe, die internationaler geworden ist und unter Rebrow einen etwas anderen Fußball spielen dürfte“, sagt Sportjournalist Schtscherbakow, „einen wohl sehr europäischen“.

Aber es ist das erste Spiel unter dem neuen Trainer, da sollte man noch nicht allzu große Hoffnungen hegen. Auch die Qualifikation für die Europameisterschaft, in einer Gruppe mit England und Italien, wird alles andere als einfach.

„Im Krieg gibt es wichtigere Dinge als Fußball, aber die Nationalmannschaft ist für dieses Land gerade in solchen Zeiten etwas ganz Besonderes“, sagt Maksym Krawez, der als Fußballexperte bei einer ukrainischen Sportwettenagentur angestellt ist. „Und positive Emotionen brauchen die Menschen mehr denn je, je länger der Krieg andauert.“

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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