Fehler in der Gesundheitsversorgung: Trotz Prothese nie wieder auf die Beine

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Fehler in der Gesundheitsversorgung: Trotz Prothese nie wieder auf die Beine

© Arno Burgi/dpa picture alliance Fehler in der Gesundheitsversorgung: Trotz Prothese nie wieder auf die Beine

Sie sind inzwischen gespickt mit KI und täuschend echt: Kunstbeine sollen Amputierten helfen, landen aber bei vielen schnell im Schrank. Aus Gründen.

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Petra W. ist eine Frau mit fein geschliffenen Nägeln und akkurat frisiertem aschblondem Haar. Eine, die sich freut, wenn man ihr sagt, sie sähe aus wie 50. Aber sie ist 87 und sitzt im Rollstuhl mit nur einem Bein, dem linken. Auf die Frage nach ihrem Befinden sagt sie: „Es ist nicht mehr so schön“, oder „wenn man das Schlechte weglässt, geht es irgendwie gut.“ Ihr Optimismus ist erloschen. Dabei hatte sie nach der Amputation vor zwei Jahren noch fest vor, wieder laufen zu lernen.

Warten bis das Bein kommt – oftmals zu spät

Aber kaum war sie von der OP heimgekehrt, bauten sich Hürden über Hürden vor ihr auf. Ihre gesetzliche Krankenkasse wollte zunächst kein Kunstbein bezahlen. Monate vergingen. Ihr Mann kämpfte, mit Erfolg. Mit dem Bein, eingewickelt in einen blauen Sack, fuhr Petra W. zur Physiotherapeutin. Doch die hatte keine Ahnung von Kunstbeinen, war beim Anlegen hilfloser als Petra W. selbst. Später hieß es, das Bein passe gar nicht. Inzwischen lag die OP schon über ein Jahr zurück. Wieder kämpfte ihr Mann mit der Krankenkasse, wieder kam ein Bein. Doch um zu lernen, wie es zu ihrem Bein werden könnte, fehlte plötzlich die Stütze: Petras Mann wurde dement, musste in ein Pflegeheim. Heute liegen in Petra W.s Schrank zwei blaue Säcke.

Pech? Schicksal? Die Ausnahme von dem Hollywood-Happy-End-Narrativ, nach dem ein dramatisch Verunglückter dank Prothese und eisernem Willen bald wieder lächelnd durchs Leben geht? „Es gibt keine systematischen Daten über die Anzahl der Amputierten, die es auf eine Prothese schaffen“, sagt Melissa Beirau, Ärztin für Unfallchirurgie am Unfallklinikum Berlin. „Und es interessiert auch niemanden.“ Nur eine Studie der Pflegewissenschaftlerin Uta Gaidys von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg gibt es. 2013 befragte sie mithilfe zweier gesetzlicher Krankenkassen 515 Amputierte und zwar bis zu vier Jahre nach der Amputation. Die allermeisten, 87,1 Prozent, hatten eine Prothese. Aber weniger als die Hälfte – 41,4 Prozent – konnte damit gut genug gehen, um den Alltag zu meistern. Viele liefen trotz Prothese kaum mehr als wenige Minuten. Zwei Drittel sind nach dem Eingriff deshalb auf die Hilfe von Angehörigen oder Fremden angewiesen. Kochen, waschen, Erledigungen außer Haus – vieles gelingt ihnen fortan nicht mehr alleine. Als wichtigste Ursache ihrer Pflegebedürftigkeit beklagen sie, dass sie zu wenig laufen können.

Tolle Prothese, doch viele kommen nicht weit damit

Dabei hätten viele sogar zwei verschiedene Kunstbeine für die amputierte Gliedmaße, sagt Andrea Vogt-Bolm, Leiterin des unabhängigen Vereins Ampu Vita. Aus Gaidys’ Studie geht hervor, dass ein großer Anteil, 87 Prozent, die Prothese sogar zwei- bis sechsmal pro Woche anlegt. Aber dann kommen sie offensichtlich nicht weit. „Die meisten tragen sie nur ein paar Minuten. Sonst liegen sie im besagten blauen Sack herum“, sagt Vogt-Bolm.

Der Chirurg Bernhard Greitemann entfernt selbst Gliedmaßen von Patienten, und er leitet eine Rehaklinik bei Osnabrück. Ihm missfällt die Geschichte von den unnützen Prothesen: Gut 80 Prozent der Amputierten verließen seine Klinik auf der Prothese. Sie könnten laufen und Treppen steigen. Aber wie weit sie auf dem Kunstbein im Alltag wirklich kommen und wie weit sie damit Jahre später gehen, weiß er nicht, räumt er ein.

Der Medizintechnikkonzern Ottobock in Duderstadt habe sich geschockt gezeigt, als Gaidys ihre Studie dort persönlich vorstellte, berichtet sie. Auch für sie selbst war der Besuch ein Schock: „Ich ging in diese Eingangshalle und dachte, hier geht es ins Space Shuttle. Das war unglaublich.“ Es gäbe Prothesen, die sich per Smartphone beugen und strecken. Solche, mit denen man schneller läuft als normal, solche, die beim Hinsetzen und beim Aufstehen aktiv nachhelfen. Die Werbung der Medizintechnikhersteller zeigt Amputierte im Anzug, auf der Sonnenseite der Karriere, dynamisch, lächelnd.

Oft reicht der stärkste Wille nicht

Petra W. lächelt nicht. „Die Chirurgen hören es nicht gerne, aber ein wichtiger Grund ist, dass zu spät und dann scheibchenweise amputiert wird. Großer Zeh, Vorfuß, Unterschenkel, Oberschenkel, dann das andere Bein“, sagt Gaidys. Die Operierten seien dann durch das lange Siechtum und die ständigen Eingriffe geschwächt und unfit. Wenn sie eine Prothese brauchen, schaffen sie es oft, trotz bestem Willen, nicht mehr und enden im Rollstuhl. Der typische Betroffene habe Dutzende Eingriffe hinter sich, sagt Vogt-Bolm.

Der Vorwurf der zu zögerlichen Amputationen steht im Widerspruch zu den Verlautbarungen der Fachgesellschaften: Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin schreibt, die meisten Amputationen bei Diabetikern könnten mit gefäßerhaltenden Maßnahmen abgewendet werden. Das sei auch bei Patienten mit Durchblutungsstörungen der Fall, sagt die Deutsche Gesellschaft für Angiologie für ihr Patientenklientel. Beide Krankheiten sind mit Abstand die wichtigsten Ursachen für Amputationen.

Das Entfernen einer Gliedmaße gilt schon lange als Versagen des Arztes. Für (zu) späte Amputationen kommen aber auch andere Motive in Frage. Beinerhaltende Behandlungen und nachfolgende Scheibchenamputationen bringen mit Abstand das meiste Geld im Vergütungssystem. Und weil es für Chefärzte mitunter umso mehr Gehalt gibt, je mehr sie behandeln, haben auch sie ein Interesse an der einträglichen Taktik.

„Immer wieder ist von Salamitaktik die Rede“, sagt Unfallchirurg Bernhard Greitemann. „Aber diese Kritik trifft so nicht zu. Natürlich gibt es Revisionen nach Amputationen. Aber oberstes Ziel muss auch aus Gründen der Mobilität der Erhalt der Gliedmaßen sein. Ohne Vorfuß kann man ohne Prothese laufen, ohne Oberschenkel nicht mehr.“

Zwei-Klassen-Gesellschaft der Amputierten

Im Fall von Petra W. ist die Antwort auf die Frage, wieso sie nicht mehr läuft, wohl ohnehin eine andere. Das hängt damit zusammen, dass es zwei Klassen von Amputierten gibt: die gesetzlich Versicherten und die Berufsunfallopfer. Wer beruflich bedingt etwa auf dem Weg zur Arbeit verunglückte und ein Bein verlor, für den wird alles getan, damit er wieder auf die Beine kommt. Die Berufsgenossenschaft will keine teure Berufsunfähigkeit bezahlen und erstattet dafür gewöhnlich anstandslos Prothesen und die Rehabilitation. „Diese Menschen lernen fast immer auf einer Prothese zu laufen“, sagt Beirau.

Aber die meisten Amputierten zählen nicht zu den Glücklichen. Sie haben ihr Bein aufgrund eines Diabetes oder einer Durchblutungsstörung, seltener infolge eines Tumors verloren, wofür die gesetzliche Krankenkasse aufkommen muss. „Standard ist, dass die Erstattung der Prothese dann insbesondere bei den Über-60-Jährigen erst einmal abgelehnt wird“, sagt Beirau. „Dann muss man ein Widerspruchsverfahren einleiten.“ Das zieht sich hin. Unterdessen hockt der amputierte Patient bereits im Rollstuhl in seiner Wohnung. Die wenigen vorhandenen Muskeln schwinden. Er beginnt seinen Alltag mit fremder Hilfe im Rollstuhl zu bestreiten. Dann bewilligt die Krankenkasse womöglich nach Monaten ein Kunstbein, das ein Orthopädietechniker aber erst anfertigen muss. Wieder vergehen Monate vom Kostenvoranschlag bis der „blaue Sack“ eintrifft. Doch wer zeigt den gesetzlich versicherten Amputierten dann, wie man mit einem Kunstbein läuft? Lokal ansässige Physiotherapeuten kennen sich oft nicht mit Prothesen aus, sagt Beirau. Und eine Rehabilitation wird selten von vornherein bewilligt. Wieder müssen die gesetzlich Versicherten kämpfen. Sollten sie je in einer Rehaeinrichtung landen, hat der Körper schon so abgebaut, dass drei Wochen Kur – so viel wird in der Regel gewährt – niemals reichen, um vom Rollstuhl in den freien Stand zu kommen. „Auf einer Prothese laufen zu lernen, ist selbst für einen frisch operierten Leistungssportler knochenharte Arbeit, für die er starken Willen braucht“, sagt Beirau. „Krebspatienten werden oft sehr hoch amputiert“, sagt Greitemann. Sie sind zwar meist jung, aber bei einer Oberschenkelamputation ist es eben schwierig, auf einer Prothese laufen zu lernen.“

Nur Unfallopfer bekommen nach der Amputation ungefragt das Intensivprogramm. Am Unfallklinikum Berlin hat jeder Patient sogar seinen eigenen Therapeuten. Das Training findet in kleinen Gruppen von drei bis fünf Personen statt. „Das ist Luxus. Wenn die gesetzlich Versicherten das bekämen, könnten viel mehr Amputierte besser laufen“, meint Beirau. Die Versehrten trainieren die Arm- und Beinmuskeln im Fitnessstudio. Sie bekommen täglich Physiotherapie und lernen in der Gehschule an Spezialgeräten laufen. „Die Krönung ist, mit der Prothese auf eine Matte zu fallen und wieder alleine aufzustehen. Davor haben viele im Alltag Angst“, erklärt Greitemann.

Selbst bei optimaler Unterstützung hängt die Hälfte des Erfolgs an der Motivation

Die Zwei-Klassen-Reha ist ein sich selbst erhaltendes System. Manches Berufsunfallopfer bekommt zum x-ten Mal eine Kur, wie Jörg P. (67). Seit einem Motorradunfall in der Ausbildung ist er oberschenkelamputiert. Mit seiner neuen Prothese hat ihn die Berufsgenossenschaft zur Kur in die Unfallklinik Berlin geschickt. P. wankt, zieht das linke Bein nach, als wäre es aus Holz, starr und unbeweglich. Eigentlich dürfte mit seiner modernen Prothese sogar Treppensteigen kein Problem sein – vorausgesetzt der Träger weiß das Kniegelenk auszulösen. „Mit der Ferse auftreten und sich dann mit Kraft vom Ballen abdrücken“, sagt Orthopädietechniker Christian Hartz. Doch Jörg P. setzt mit leiser Angst im Gesicht den gesunden Fuß auf die Stufe und führt das Kunstbein starr seitlich nach. „Er hat es sich anders angewöhnt“, sagt Hartz. Zuhause komme er mit Prothese „ein paar Meter weit“, sagt P. Zwar wolle er durchaus besser laufen lernen, „ich habe aber meine Zweifel.“

Auch das ist ein Teil der Wahrheit: Selbst bei optimaler Unterstützung hängen 50 Prozent des Erfolgs von der Einstellung ab, sagt Hartz. Ob man es Motivation, Mut oder Willenskraft nennt – ohne schafft es keiner auf die Beine.

Nachdem Petra W. ihren Mann an die Demenz verloren hatte, war auch ihr Wille gebrochen. Klingeln die Nachbarn bei ihr, kann sie die schwere Wohnungstür meist nur einen Spalt breit aufdrücken. Über das Kunstbein reden Besucher besser nicht mehr. Sonst kommen die Tränen.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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