Europas Asylpolitik: „Die Grünen drohen zerrieben zu werden“
© picture alliance / AA/COSTAS BALTAS Europas Asylpolitik: „Die Grünen drohen zerrieben zu werden“
Der Migrationsexperte Gerald Knaus sagt, der Beschluss der EU-Innenminister löst kein aktuelles Problem. Ein Gespräch über Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen und die Konzeptlosigkeit der Grünen.
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Herr Knaus, die EU-Innenminister haben sich auf eine Reform des EU-Asylsystems geeinigt. Wird dies tatsächlich zur Verringerung der Asylbewerberzahlen führen?
Es ist noch nicht sicher, ob aus diesem Kompromiss am Ende ein Gesetz wird. Das ist ein nicht umsetzbarer Vorschlag, der in der Praxis auch die Zahl jener, die irregulär in die EU kommen, nicht reduzieren wird. Ich denke auch Griechenland, Italien und Deutschland werden, wenn sie den Beschluss in Ruhe analysieren, bald feststellen: Eigentlich bringt uns das nichts.
Und was ist, wenn der Beschluss der EU-Innenminister am Ende doch mehr oder weniger unverändert in Kraft treten sollte?
Spätestens dann wird man bemerken, dass er keines der akuten Probleme löst.
Warum nicht?
Nehmen wir Griechenland. Griechenland führt seit drei Jahren Pushbacks durch, also rechtswidrige Zurückweisungen von Asylbewerbern. Nach dem Beschluss der EU-Innenminister müsste Griechenland jetzt stattdessen Lager errichten und viele Grenzverfahren durchführen, ohne eine Idee, was danach passieren soll. Warum sollte Athen illegale Pushbacks einstellen, die seit 2020 keine andere Regierung in der EU klar kritisiert? Wo ist die alternative humane Kontrolle im Beschluss der Innenminister?
Ist es denn nicht sinnvoll, Migranten ohne Bleibeperspektive mit Grenzverfahren schnell wieder abschieben zu können?
Grundsätzlich ist gegen schnelle, faire Grenzverfahren nichts einzuwenden, aber ohne praxistaugliche Migrationsabkommen mit Herkunfts- oder Transitstaaten sind sie sinnlos. In Italien kamen 2022 etwa 55.000 Menschen nur aus Bangladesch, Ägypten und Tunesien an. Die meisten bekamen kein Asyl. Dennoch wurde nur ein Bruchteil abgeschoben. Schnelle, faire Asylverfahren ergeben dort Sinn, wenn Länder bereit sind, irreguläre Migranten zurückzunehmen. Sonst nicht.
Wenn sich der Beschluss der EU-Innenminister nach Ihrer Meinung in der Praxis nicht umsetzen lässt, wie müsste dann ein alternatives Modell für eine bessere Migrationspolitik aussehen?
Statt sich auf verpflichtende Grenzverfahren zu konzentrieren, sollten wir zunächst dafür sorgen, dass andere Staaten zu sicheren Drittstaaten werden wollen – und zwar durch Anreize. Damit Marokko zu einem sicheren Drittstaat werden will, könnte ein Angebot der Visafreiheit für Reisende aus dem nordafrikanischen Land einen großen Anreiz bieten. Und warum bietet man Tunesien nicht an, dass ein Kontingent junger Menschen jährlich über geregelte Zuwanderung nach Deutschland auf den Arbeitsmarkt kommen kann, die dort auch gebraucht werden? Das würde einen Anreiz schaffen, im Gegenzug abgelehnte tunesische Asylbewerber schnell zurückzunehmen. Und potenzielle irreguläre Migranten zu entmutigen.
Der Beschluss der EU-Innenminister kam auch deshalb zustande, weil sich zuletzt – außer in Deutschland – die Stimmung in der Gemeinschaft gedreht hat. Inzwischen steht der Wunsch im Vordergrund, die Zahlen der Asylbewerber wieder zu reduzieren. Haben Sie Verständnis dafür?
Ich habe in den letzten Tagen von Politikern gehört, dass sie den Beschluss zwar nach der Gesinnungsethik nicht gutheißen, aber unter dem Gesichtspunkt der Verantwortungsethik unterstützen würden, denn er habe eine gemeinsame europäische Lösung ermöglicht. Doch Verantwortungsethik orientiert sich an Resultaten von Handlungen. Und diese Lösung erzeugt gerade keine guten Resultate, auch nicht für die EU. Sie reduziert die irreguläre Migration nicht und nimmt somit auch Rechtspopulisten keinen Wind aus den Segeln. Das schadet auch der EU.
Ob Ruanda sicher ist für jene, die vor Libyen im Mittelmeer gerettet werden, ist eine empirische Frage, keine ideologische.
Gerald Knaus, Migrationsexperte
Unter den Ampel-Parteien äußern vor allem die Grünen heftige Kritik am Beschluss der EU-Innenminister. Bei ihrem kleinen Parteitag im hessischen Bad Vilbel haben sie noch einmal darüber beraten. Müssen die Grünen nicht einsehen, dass sie bei der Gestaltung der künftigen europäischen Asylpolitik am kürzeren Hebel sitzen?
Das Grundproblem hier: Zwar steht im Koalitionsvertrag, sogar zweimal, dass irreguläre Migration im Einklang mit den Menschenrechten reduziert werden soll. Aber zu wenige in der Partei haben klar erklärt, wie man dieses Ziel erreichen kann. Der Widerstand gegen die Entwicklung von Kooperation mit sicheren Drittstaaten ist für mich daher nicht nachvollziehbar. Es wird gegen das „Ruanda-Modell“ polemisiert. In der Praxis bringt UNHCR bereits heute Asylsuchende aus Libyen nach Ruanda, weil es für sie in Libyen zu gefährlich ist. Ob Ruanda sicher ist für jene, die vor Libyen im Mittelmeer gerettet werden, ist eine empirische Frage, keine ideologische. Es geht um Kontrolle von Standards, auch durch europäische Gerichte.
Ist den Grünen ihr gutes Gewissen wichtiger als tragfähige Lösungen in der Migrationspolitik?
Tausende Tote und misshandelte Menschen an EU-Grenzen sollten unser aller Gewissen belasten. Die Frage ist, wie man den Status Quo verändert. Man sollte sicher nicht reflexartig das Prinzip sicherer Drittstaaten ablehnen. Wie, anders als durch Kooperation, soll irreguläre Migration ohne illegale Pushbacks zurückgehen? Darauf fehlt eine Antwort. So drohen die Grünen zerrieben zu werden zwischen denen, die ihnen Einflusslosigkeit vorwerfen, und anderen, die von Heuchelei sprechen. Dabei fehlt es nicht an gutem Willen, sondern an einem Konzept, das in Europa andere überzeugen könnte. Dann aber machen Italien, Polen und Griechenland weiter, was sie für richtig halten.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de