Der Unterschätzte: 100 Tage Kai Wegner in Berlin – mehr Merkel als Merz
© Lydia Hesse/Tagesspiegel Der Unterschätzte: 100 Tage Kai Wegner in Berlin – mehr Merkel als Merz
Der CDU-Politiker will als Regierender Bürgermeister vieles anders machen als seine Vorgängerin Franziska Giffey. Gelingt ihm das?
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Der unscheinbare Herr Wegner ragt heraus an diesem Nachmittag. Erst besucht Berlins Regierender Bürgermeister die örtliche Sparkasse, dann die Suppenküche, einen Bio-Bauernhof, das Rathaus. In der Ferne tutet die Eisenbahn. Man kommt viel herum in so einem Amt. Eine Frau fragt: „Ist das wirklich der Berliner Bürgermeister?“
Verfolgt wird Kai Wegner von einem Dutzend Reportern mit Kameras, Klick, Klick, bitte einmal umdrehen. Wie so ein richtiger Promi eben. Ist doch klar, wenn der Bürgermeister der deutschen Hauptstadt eine Partnerschaft besucht. Neben ihm läuft stolz sein Amtskollege, Arian, 13 Jahre alt.
Kai Wegner ist an diesem Mittwoch Ende Juli zu Gast in der „FEZitty“, der selbsternannten Kinderhauptstadt. Die ganzen Sommerferien lang können Kinder im Jugendzentrum „FEZ“ kochen, handwerkern oder Politik machen. Arian ist gerade im Wahlkampf, muss um seinen Job kämpfen. Das hat Kai Wegner ja glücklicherweise gerade hinter sich – für ihn ist das ein dankbarer Termin.
Wegner nimmt sich viel Zeit, hört zu, was die Kinder ihm erzählen. Vor allem das Schicksal eines Karnickels interessiert ihn. Ob das noch lebe, seit er das letzte Mal hier war? Manchmal steht Kai Wegner etwas abseits, obwohl er zwischen den Kindern doch automatisch der Fixpunkt wäre.
Der CDU-Politiker will, seit er Ende April Berlin regiert, vieles anders machen als seine Vorgängerin von der SPD. Sie schwebt noch wie ein Schatten über allem, über der Koalition, der sie ja weiter angehört, aber auch über dem Roten Rathaus. Franziska Giffey hatte die Gabe, wenig dafür tun zu müssen, um im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Schwäche war, nur selten bewusst an die Seite getreten zu sein.
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2021 war Giffey als Volkstribunin gestartet. Anfang 2023 lag die Zufriedenheit der Wähler mit ihrer Amtsführung sogar unter dem Ergebnis ihrer eigenen Partei. Wegner, das hört man aus seinem Umfeld, will ihre Fehler nicht wiederholen: Er will moderieren statt intervenieren, will präsidieren statt räsonieren. Andere sagen, er sei einfach blass. Kann man also mit Zurückhaltung erfolgreich sein?
Die erste Auslandsreise geht nach Warschau
Seit rund 100 Tagen regiert Kai Wegner Berlin. Der erste Konservative nach einem Vierteljahrhundert. Ein 50-jähriger Spandauer, in einem Amt, das ihm viele – gerade in der eigenen Partei – lange nicht zugetraut haben. Schulabbrecher, Versicherungskaufmann, früher doch ziemlich weit rechts. Wegner sei noch nicht so weit, zu wenig charismatisch, zu sehr Parteisoldat. In der CDU träumte man lieber von einem neuen Richard von Weizsäcker.
Doch Wegner holte 28 Prozent und führt seither die Geschäfte im Senat. Seine Beliebtheit liegt deutlich höher als die von Giffey und über der seiner Partei. Das mag zum einen auch der Zauber des Neuen sein – aber wohl ein erstes Ergebnis eines neuen Stils.
Am Flughafen Willy Brandt, Ende Juni. Kai Wegner klopft noch einmal kurz auf die Außenwand des Flugzeugs, dann steigt er in die Maschine. Gleich zu Beginn die erste Auslandsreise, Warschau. Wegner ist gerade erst einen guten Monat lang Regierender Bürgermeister. Politik macht er schon lange, aber internationale Termine sind doch Neuland für ihn. Er wird in diesen Tagen noch weitere ankündigen, wie um zu beweisen, dass er nicht nur die Parteigremien, sondern auch das diplomatische Parkett beherrscht. Aber es prallen doch auch Welten aufeinander.
„Einen schönen Flughafen haben Sie“, sagt Wegner zur Chefin der internationalen Abteilung aus dem Warschauer Rathaus. Sie fängt an, über die Geschichte des Baus zu erzählen, der so beliebig aussieht wie fast jeder Flughafen. Der Start in die Unterhaltung ist gelungen. Nein, Wegner ist kein Plaudergenie wie Giffey, aber doch ein angenehmer, aufmerksamer Gesprächspartner. Egal, ob am Wahlkampfstand, in Runden mit Journalisten oder nun eben am Warschauer Flughafen.
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Komplizierter wird es für ihn beim Besuch eines polnischen Unternehmens. Die Gastgeber geben sich Mühe, mit ihm auf Deutsch zu sprechen. Englisch beherrscht Wegner kaum. Finden Gespräche auf Englisch statt, merkt man ihm die Nervosität an. Antwortet er in der Fremdsprache, dann mit einzelnen Wörtern als mit Sätzen.
Ganz anders seine Vorgängerin Giffey. Die Sozialdemokratin spricht nicht nur Englisch, sondern auch Französisch fließend, außerdem passabel Russisch. Die Übersetzer im Roten Rathaus haben jetzt wieder mehr zu tun. Allein: Macht ihn das zu einem schlechteren Rathauschef? Auch über Paris’ Bürgermeisterin Anne Hidalgo ist bekannt, dass sie kaum ein Wort Englisch spricht.
Nein, politisch lief nicht alles glatt in den ersten 100 Tagen, etwa Wegners Wahl erst im dritten Wahlgang. Da wäre fast schon alles vorbei gewesen. Seine Verkehrssenatorin Manja Schreiner löste eine leidige Debatte um Berlins Radwege aus, von der letztlich wenig blieb.
In den Haushaltsberatungen dann setzte sich in der Stadt die Erzählung fest, dass CDU und SPD „einen Kahlschlag“ im Sozialen planten. Wochenlang wurde darüber debattiert. Letztlich war das Gegenteil der Fall: Der Sozialetat wächst überdurchschnittlich, um Kürzungen zu vermeiden, brauchte man alle Rücklagen auf.
Auch das Sondervermögen für mehr Klimaschutz ist ein früher Erfolg der Koalition. Das Milliardenprogramm soll wie ein Konjunkturpaket die Berliner Wirtschaft ankurbeln. Was auffiel: Wegner blieb meist Moderator.
Das fiel schon am Wahltag auf. Alle Welt zeigte auf die Abgeordneten der SPD, die ihn angeblich fast bis zu halber Fraktionsstärke hatten durchfallen lassen. Auch aus seiner CDU-Fraktion kamen solche Töne. Sind die Sozialdemokraten verlässlich? Kann diese Koalition halten? Wegner reagierte besonnen.
Nach seiner Wahl darauf angesprochen, lenkte Wegner den Blick auf die eigenen Leute. Bei mehreren CDU-Abgeordneten habe der Verdacht bestanden, dass sie ihm die Stimme versagt hätten, sagte Wegner. Wie viele? „Zu viele, finde ich.“
Wegner will Giffeys wöchentliche Bühne nicht
Wegner nahm so Druck von den Sozialdemokraten, rettete den Koalitionsfrieden. War er verärgert über die eigenen Leute? Mag sein. Aber damit lasse sich die Aussage nicht erklären, meinen selbst seine Gegner in der CDU. Natürlich sei alles Kalkül gewesen, auch die SPD habe ihn um so eine Aussage gebeten. Wegner ist wenig eitel. Das hilft in solchen Momenten.
Dann ist da die Senatspressekonferenz. Das war immer Giffeys wöchentliche Bühne. Was immer die Stadt beschäftigte: Meist sprach darüber auch die Regierende, neben den fachlich zuständigen Senatoren. Die Sozialdemokratin wollte als Kümmerin erscheinen – und klarmachen, wer in der Dreierkonstellation mit Grünen und Linken Chefin ist. Nicht selten löste sie damit neuen Streit aus.
Wegner nahm erst dreimal überhaupt an der Presserunde teil. Auch sonst lässt er Senatoren Freiraum. In CDU-Vorsitzenden gesprochen: Wegner ist eher Merkel als Merz.
Mitte Juni, die Warschau-Reise ist ohne größere Unfälle überstanden. Ein Freitagnachmittag, das Sommerfest der Berliner Kleingärtner. Die meisten hier sind jenseits der 70, sitzen an Bierzelttischen. Eine Bratwurst in der Hand, auf dem Tisch ein kaltes Pils gegen die Hitze.
Mit etwas Verspätung kommt Wegner den Weg zwischen den Gärten entlang. Das sonst obligatorische dunkelblaue Sakko hat er abgelegt, die Hemdsärmel sind hochgekrempelt. Das ist ja ohnehin sein Motto: Versöhnen statt Spalten und Ärmel hoch. Weniger Streiten, mehr machen.
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Als er an den Tischen vorbeigeht, gratulieren ihm einige zur Wahl. Während Wegner Hände schüttelt, klopfen ihm die Menschen auf die Schulter. Andere wollen ein Foto. Das ist hier so ein Heimspiel für ihn wie für Herthinho in einem Charlottenburger Kindergarten.
CDU und SPD hätten sich immer zum Schutz der Kleingärten bekannt, sagt Wegner wenig später in seiner Rede auf der Bühne. Zwar hätte auch eine andere Partei immer wieder vom Schutz der Kleingärten gesprochen, nur gemacht habe sie nichts, solange sie regiert habe. „Das war eine grüne Partei“, ruft er. Einige im Publikum stöhnen schon beim Wort „Grüne“. Wegner bekommt viel Applaus. Stammwählerschaft kann er.
Und doch hat auch er selbst sich verändert. Wegner ist mal, damit wären wir wieder bei der CDU, als Friedrich-Merz-Anhänger der ersten Stunde gestartet. Heute orientiert er sich eher am liberalen Hendrik Wüst. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hatte ihn schon im Wahlkampf besucht, als Wegner manchen noch als Rechtskonservativer in der CDU galt.
Ein Zeichen für den Wandel: Wegner moderierte einen heftigen Streit innerhalb der Koalition um Berlins neuen Queerbeauftragten ab. Berlins CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hatte diesen öffentlich und intern scharf kritisiert. Wegner reagierte mit einem gemeinsamen Foto – mit dem Queerbeauftragten. Auch ein angebliches Genderverbot hatte Wegner nie ausgesprochen und als sein Parteichef Merz die Brandmauer zur AfD ein Stück weiter einriss, widersprach Wegner ihm als einer der ersten.
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Hört man sich in diesen Tagen in der Koalition um, wird die Zusammenarbeit als gut beschrieben. Auch in der SPD ist man froh, dass nach den anstrengenden Jahren der Dreierkonstellation wieder leichter nach Kompromissen gesucht werden kann. Mit Wegner, das ist nicht nur als Lob gemeint, ließe sich eigentlich immer handeln.
Die Hoffnung ist da bei den Sozialdemokraten: 2026 wollen sie wieder ins Rote Rathaus. Da kommt so ein blasser Bürgermeister doch gerade recht. Fehler, davon gehen sie aus, werde er schon noch machen, zur Not erzwingt man sie. Lieben würden ihn die Berliner wohl nie. Mit einer guten Kandidatin, soweit die Theorie, könne man ihm das Amt schon wieder entreißen.
In „FEZitty“ ist plötzlich der Bürgermeister abhandengekommen. Nicht Wegner, aber der 13-jährige Arian. Man blickt sich Hilfe suchend um. Wegner: „Na, irgendeiner muss hier doch regieren?“ Doch da kommt der Amtskollege auch schon wieder. Wegner zwinkert ihm zu. Macht er gern, das stellt Nähe her.
Kurz darauf macht eine Nachricht die Runde. Einige Kinder sind in der „FEZitty“ von einem rollenden Zug abgesprungen. Bürgermeister Arian fordert eine Strafe – hier kann schließlich nicht jeder machen, was er will. Wegner verfällt rasch in den Regierungsmodus: „Wer Regeln bricht, muss bestraft werden. Ich finde es gut, dass ihr da so konsequent seid“, sagt der CDU-Politiker. Wie war das? Irgendeiner muss hier doch regieren. Notfalls macht er das eben.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de