Das erste weltbekannte Elektroauto: Ein großer Ritt für die Menschheit
© Nasa
Das erste weltbekannte Elektroauto: Ein großer Ritt für die Menschheit
Vor genau 50 Jahren machte ein besonderer Geländewagen Schlagzeilen. Gebaut hatte ihn ein Flüchtling aus Ungarn, der noch heute in Kalifornien lebt.
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Es wäre schön, das erste Elektroauto, das jemals weltweite Aufmerksamkeit bekam und auch noch tadellos funktionierte, besichtigen zu können. Anders als viele vergleichbare epochemachende Objekte der Technikgeschichte gibt es dieses Gefährt sogar noch.
Nur mit dem Besichtigen ist das so eine Sache. Es steht in keinem Museum, sondern parkt in etwa 400 000 Kilometern Entfernung.
Vor genau 50 Jahren, Ende Juli und Anfang 1971, fuhr jenes Auto – ein Zweisitzer mit vier Elektromotoren – erstmals auf dem Terrain, für das er gebaut worden war. Der Oberfläche des Mondes. Es war zwar nicht das erste von Menschen gebaute bewegliche Gefährt auf einem anderen Himmelskörper als der Erde, denn 1970 war es Ingenieuren des sowjetischen Raumfahrtprogramms gelungen, den zweiten Lunochod-Roboter sicher auf den Mond zu bringen. Doch es war das erste echte Auto dort, gesteuert von Menschen.
Mit dem Auto kam die Wissenschaft
Vor allem, so sagt etwa der Autor Earl Swift (hier geht es zum Interview mit ihm), der über die „Lunar Roving Vehicles“ (LRVs) und ihre Fahrer und Beifahrer ein Buch geschrieben hat, war es der Beginn des wirklich ernsthaften wissenschaftlichen Teils des Apollo-Programms. Bei Apollo 11 mit Neil Armstrong und Edwin Aldrin war vor allem wichtig gewesen, Präsident Kennedys Ankündigung von 1961 wahr zu machen: vor Ende des Jahrzehnts Männer auf die Mondoberfläche und zurück zur Erde zu bringen. Die nächsten Missionen brachten auch keine „Giant Leaps“ im Vergleich zur ersten Landung. Und bei Apollo 13 gelang es nur knapp, die abgebrochene Mission ohne Verlust an Menschenleben zurück zur Erde zu bringen.
Auf dem Trabant. Gene Cernan, Apollo-17-Kommandant, bei der Testfahrt des „LRV-3“. Fotograf war Harrison Schmitt, Geologe und erster Wissenschaftler auf dem Mond. Beide waren die bislang letzten Menschen, die ihn betraten. Nur Schmitt ist von den beiden noch am Leben.
© H. Schnitt, Nasa
Unter den Astronauten von Apollo 15 bis 17 dagegen war mit dem Geologen Harrison Schmitt nicht nur der erste studierte Wissenschaftler auf dem Erdtrabanten. Sie brachten auch deutlich mehr Mondgestein mit als alle anderen zusammen und machten mehr echte Experimente. Diesen riesigen Sprung in der Monderkundung machte vor allem das Mondauto möglich.
Fünf Dollar und ein Zugticket
Das hätte es ohne den ungarischen Volksaufstand im Oktober und November 1956 möglicherweise nie gegeben.
Denn der damals 28-jährige Ingenieur Ferenc Pavlics hätte dann wohl weiter am Budapester Maschinenbau-Institut gearbeitet. Nun kommt er nach der Niederschlagung jener auch „Ungarische Oktoberrevolution“ genannten Bewegung aber 1957 auf einem Flüchtlingsschiff in die USA, klassisch seekrank und mit verschlafenem Blick auf die Freiheitsstatue, wie er sich später in einem Interview erinnerte. Fünft Tage später, im Aufnahmelager irgendwo in New Jersey, bekommt er von einem Headhunter von General Motors (GM), der unter den Flüchtlingen nach Fachkräften sucht und wie Pavlics deutsch spricht, fünf Dollar und ein Amtrak-Ticket nach Detroit in die Hand gedrückt.
Auto-Didakt. Ferenc Pavlics bei einem Besuch in Budapest 2010.
© Both Előd via Wikipedia Ungarn
In der Motorstadt lernt der junge Ungar in drei Monaten in Abendkursen Englisch und baut am Forschungsinstitut von General Motors eine Arbeitsgruppe mit auf. Sie soll Techniken für das Off-Road-fahren entwickeln. Auf der Erde, mit Verbrennungsmotor, für die Landwirtschaft und das Militär vor allem. „Dass so etwas wie die Nasa existiert, wusste ich jahrelang gar nicht“, sagte Pavlics später einmal.
Fahren oder schrauben?
1961 hielt Kennedy seine „Mondrede“. 1961 zog Pavlics um: zusammen mit vielen anderen GM-Ingenieuren nach Santa Barbara in Kalifornien in ein neues Forschungsinstitut. 1961 begannen er und seine Kollegen auch „uns zu überlegen, dass es doch nett wäre – wenn sie es schaffen, da hin zu kommen –, da ein Fahrzeug dabei zu haben, um von der Landestelle entferntere Gebiete zu erkunden, was ja für Wissenschaftler interessanter wäre“.
Niemand wusste damals, wie die Mondoberfläche beschaffen war. Man nahm an, dort auf sehr lockeren Staub zu treffen, der alles, was nicht superbreite Räder hat, tief würde einsinken lassen. Entsprechend sahen die ersten Entwürfe und Prototypen aus. Sie gingen von Riesenautos mit Riesenreifen und Kettenfahrzeugen mit sehr breiten Ketten bis hin zu Maschinen, die sich unterirdisch – oder unterlunar – durch den Staub hindurchschrauben sollten. Die unbemannten amerikanischen Mondlandungen der Surveyor-Missionen Mitte der 60-er Jahre zeigten aber, dass es das Feinstaubproblem für die Fortbewegung dort wohl nicht geben und die Oberfläche unter einer dünnen Staubschicht recht fest sein würde.
Das Super-Labor auf Rädern kommt nicht vom Fleck
Die Nasa schloss mit General Motors einen Vertrag zur Entwicklung eines „normalen“ vier- oder sechsrädrigen Mondautos ab. Es waren „Think Big“-Zeiten. Heraus kam ein mobiles Labor auf Rädern, das zwei Wochen auf der Mondoberfläche bleiben sollte. Es wurde gebaut und erfolgreich von Astronauten in der Wüste getestet. Doch es war, wie ein paar Entwürfe anderer Firmen auch, schwer und klobig. Es hätte mit einer Extra-Saturn-V-Rakete zum Mond geschossen werden müssen – das alles in einer Zeit, da der Kongress knickeriger mit den Geldbewilligungen für das Mondprogramm wurde. Es schien illusorisch, irgendein Gefährt, dass Astronauten und Material würde transportieren können, in oder an einer normalen Apollo-Landekapsel unterzubringen. So gab die Nasa 1967 ihre automobilen Pläne auf. Das Ziel hieß „To the Moon and back“. Alles andere war zweitrangig.
Aber Pavlics und nicht mehr als eine Handvoll seiner Leute bastelten – nun ohne Vertrag und auf Kosten der nur mittelmäßig begeisterten Firma – weiter.
Der erste Rover. Die Schutzbleche erwiesen sich als sehr sinnvoll – gegen den Staub von unten.
© Nasa
Sie hatten Probleme, von der Nasa überhaupt Informationen zu bekommen, wieviel Platz denn in oder an einem Apollo-Lander überhaupt verfügbar wäre. Letztendlich identifizierte man den Raum zwischen zwei Landebeinen, etwa 150 mal 150 mal 80 Zentimeter – und das auch nur in der Mitte des spitz zulaufenden Platzes. Kaum genug für ein Fahrrad. Pavlics und seine Leute dachten nach, probierten, bastelten. Und bekamen einen Termin bei der Nasa in Huntsville, Alabama. Nachdem die Präsentation eines im Maßstab Eins-zu-Sechs gebauten Modells ein paar Mitarbeiter dort sprachlos hinterlassen hatte, sollen diese schlicht an die Tür des Chefs geklopft und sie geöffnet haben.
Probefahrt in Herrn von Brauns Büro
Im Büro saß der frühere SS-Sturmbannführer und Entwickler der V-2-Rakete, Wernher von Braun. Längst in Diensten der in dieser Hinsicht immer sehr pragmatischen Nasa, hatte er unter anderem die Saturn-V-Rakete des Apollo-Programms entwickelt. Als Pavlics unangemeldet das ferngesteuerte Modell in von Brauns Büro rollen ließ, soll dieser den Telefonhörer langsam stumm aufgelegt haben. Der Ungar hatte das Modell selbst gebastelt, die Sitze hatte seine Frau genäht. Und eine „GI-Joe“-Puppe des Sohnes fungierte als Astronaut, Alufolie als Raumanzug. Von Braun bekam dann auch gezeigt, wie das Ding in Originalgröße in jenem Platz, der nicht mehr hergab als ein großer Autokofferraum, hineinpassen sollte: Es wurde schlicht maximalmöglich zusammengefaltet.
Nachdem Armstrong, Aldrin und Collins mit Apollo 11 Mitte 1969 das wichtigste, von Kennedy formulierte Ziel erreicht hatten, schrieb die Nasa offiziell doch wieder ein Mondauto-Projekt aus. Pavlics und sein Team bekamen den Zuschlag. Die Konkurrenz hatte trotz kaum verfügbarer Zeit zwar auch etwas zu bieten gehabt. Aber deren wild rechts und links unter der Landekapsel hängende Räder und dergleichen konnten im Vergleich zum Faltbuggy nicht überzeugen.
Pavlics, seinem nun wieder sehr großen Team und Boeing als Partner blieben aber auch nur noch 17 Monate, um aus GI-Joe’s Eins-zu-Sechs-Modell ein mondgängiges, nach Vorgaben der Nasa in allen Aspekten 99,5 Prozent verlässliches Vehikel zu machen. Um letzteres zu erreichen, haben Ingenieure generell eigentlich nur eine Möglichkeit: eine Kombination aus superverlässlichen, vielfach getesteten Komponenten und Redundanz.
Von der Mondschubkarre zum Raumschiff mit Rädern
Letzteres bedeutet: Wenn doch mal etwas nicht funktioniert, muss diese Funktion ein anderes Teil übernehmen können. Für die LRVs hieß das etwa, dass man sie von beiden Sitzen aus steuern konnte, dass sie nicht einen Motor hatten, sondern einen für jedes Rad, dass man sowohl mit den Hinter- als auch mit den Vorderrädern lenken konnte, dass es zwei Silber-Zink-Batterien gab. Und vieles mehr. Dazu kam Handarbeit. Regelmäßiges Staubwischen etwa rund um möglicherweise staubanfällige bewegliche Teile.
Apollo 14 hatte im Februar 1971 auch schon einen Wagen an Bord, der an jenem Platz befestigt worden war. Es war ein Handkarren voller Ausrüstung. Die Astronauten Edgar Mitchell und Alan Shepard – bekannt als im Mai 1961 erster Amerikaner im All überhaupt – schleppten ihn mühevoll mit, bepackten ihn mit Gestein und kamen aufgrund der Anstrengung und des dadurch hohen Verbrauchs an Wasser und Luft nicht immer zum jeweiligen Ziel.
Die Firmen Lockheed Martin and GM sollen für das Artemis-Programm neue Mondautos bauen. Die Astronauten scheinen jetzt schon zu staunen.
© NASA
Am 31. Juli desselben Jahres packten Dave Scott und Jim Irvin dagegen den ersten Falt-Rover aus dem Hause Pavlics aus. Die Bolzen rasteten ein, die Sitze wurden aufgeklappt, Kameras und Antenne montiert und der Motor gestartet. Die Räder aus einem Netz beschichteter Edelstahl-Klaviersaiten und kleinen Plättchen aus Titan begannen, sich zu drehen. Es war die erste Autofahrt auf dem Mond, und der bis dahin mit Abstand größte Auftritt eines Elektroautos überhaupt. Eine Viertelstunde später erreichten sie beschwingt und ausgeruht „Hadley Rille“, ihr erstes Ziel. Und hatten da schon eine mehr als doppelt so lange Strecke hinter sich wie Shepard und Mitchell ein paar Monate zuvor bei ihrem ersten Ausflug mit ihrer Lunar-Schubkarre. Danach ging es weiter. Und weitere Ausflüge folgten.
Vom amerikanischen Mondauto zum deutschen Kleinwagen
Apollo 16 und 17 hatten ähnliche Modelle dabei. Die Crew von letzterem entfernte sich am 12. Dezember 1972 fast acht Kilometer von der Kapsel. Auch wegen ein paar improvisierter Klebeband-Reparaturen ist diese Mission bekannt. Die drei Autos, die Pavlics ungern als Buggys und lieber als „Raumschiffe auf Rädern“ bezeichnet, legten zusammen 90 Kilometer auf dem Mond zurück.
Pavlics arbeitete weiter für General Motors. Zu dem Konzern gehörte lange Zeit auch Opel. Und der gebürtige Ungar– wie schon erwähnt des Deutschen mächtig – war zwischen 1980 und 1982 in Rüsselsheim und am Produktionsort in Spanien auch an der Entwicklung des ersten Opel Corsa beteiligt. Er ist mittlerweile 93 Jahre alt und lebt nach wie vor in Santa Barbara.
Die LRVs legten auch die Grundlage für die Entwicklung der Mars-Rover, die die Erkundung des Roten Planeten revolutionierten. Und Firmen wie Chevrolet, Teil des GM-Konzerns, berufen sich, wenn es um ihre irdischen E-Autos geht, heute immer wieder auf jene Vorläufer im Mondstaub und deren Entwickler.
Im Mai 2021 gab General Motors bekannt, zusammen mit Partnern für die „Artemis“-Mission der Nasa ein neues Mondauto zu entwickeln. Es gehe um eine „transformative Klasse von Fahrzeugen“, hieß es da. Und es wird natürlich ein Elektrofahrzeug sein. Die Hoffnung auf eine echte „Transformation“ gibt es derzeit aber eben vor allem auf Planet Erde. Sie ruht auf den Elektrofahrzeugen für ganz normale Straßen, gespeist von Batterien oder Brennstoffzellen. Deren wichtige Vorläufer rollten schon vor 50 Jahren abgas- und fast fehlerfrei über den Mond und stehen dort noch heute reglos im reglosen Staub.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de