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Karlsruhe billigt Wahlrecht von 2020: Einige Verfassungsrichter hadern mit dieser Entscheidung
Die Mehrheit des Zweiten Senats hält es für hinnehmbar, wenn Wahlberechtigte das Wahlgesetz nicht unmittelbar verstehen. Eine Minderheit der Richter sieht das völlig anders.
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Das Wahlgesetz der schwarz-roten Koalition von 2020 ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verfassungskonform. Das Zustandekommen des aktuellen Bundestags mit seinen 736 Abgeordneten ist damit verfassungsrechtlich korrekt.
Aber das Urteil des Zweiten Senats wird noch für Diskussionen sorgen – zumal mit Blick auf das zweite Verfahren zum Wahlrecht, das nach einer Klage der Unionsfraktion im Bundestag von den Richtern demnächst entschieden werden muss.
Das Urteil ist nicht einstimmig gefallen. Immerhin drei der acht Senatsmitglieder formulierten eine abweichende Meinung, die fundamental anders lautet als die mit Mehrheit getroffene Entscheidung.
Geklagt hatten Linke, Grüne und FDP
In dem Verfahren, das auf eine Klage der damaligen Oppositionsparteien Linke, Grüne und FDP zurückgeht, stand nicht zuletzt die Frage der Normenklarheit im Mittelpunkt. Und damit auch die Frage, ob ein Wahlgesetz so verständlich sein muss, dass auch einfache Wähler und Wählerinnen in der Lage sind, vor allem das Sitzzuteilungsverfahren zu verstehen, das unter Umständen auch für ihre Stimmabgabe relevant sein könnte. Das Bundeswahlgesetz ist hier seit vielen Jahren eine anspruchsvolle Lektüre. Mit der Reform der Koalition von Union und SPD ist es nicht einfacher geworden.
In einem solchen Wahlsystem ist ein gewisses Maß an Komplexität des Sitzzuteilungsverfahrens nicht zu vermeiden.
Aus der Begründung des Urteils
Nach Ansicht der Richtermehrheit ist das Problem allerdings nicht so gravierend, dass das Wahlrecht deswegen als verfassungswidrig eingestuft werden müsste. Die zentrale Begründung in der Pressemitteilung zur Entscheidung lautet daher: Das Wahlgesetz richte sich „primär an die Wahlorgane als Rechtsanwender“, aber nicht „unmittelbar an die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger“.
Weiter heißt es: „Deshalb ist es hinnehmbar, die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens so zu fassen, dass die damit betrauten Wahlorgane sie ordnungsgemäß anwenden können, wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger sie aber in der Regel nicht allein aufgrund des Normtextes, sondern erst unter Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen im Einzelnen erfassen können.“
Normenklarheit im Mittelpunkt
Deswegen kollidiert das Wahlgesetz laut Urteil auch nicht mit dem Gebot der Normenklarheit und weitergehend auch nicht mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes. Zulässig sind auch die drei unausgeglichenen Überhangmandate im Groko-Wahlgesetz, das zur nächsten Wahl allerdings nicht mehr angewendet wird. Mit den drei unausgeglichenen Überhängen, auf Druck der Union im Gesetz, sollte eine noch weitergehende Aufblähung des Bundestags durch Ausgleichsmandate aufgefangen werden.
Mit Verweis auf das System der mit Personalwahl verbundenen Verhältniswahl wird der Schritt gerechtfertigt. Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass die Senatsmehrheit der Mehrheitswahlkomponente – also der Direktwahl von Abgeordneten in Wahlkreisen – eine hohe Bedeutung beimisst.
Eine Frage des Wahlsystems?
Mit der Entscheidung des Gesetzgebers für die personalisierte Verhältniswahl (das deutsche Wahlsystem seit 1949) wird auch die Kompliziertheit des Wahlgesetzes gerechtfertigt: „In einem solchen Wahlsystem ist ein gewisses Maß an Komplexität des Sitzzuteilungsverfahrens nicht zu vermeiden“, urteilt die Mehrheit der Richter.
Ganz anders klingt die abweichende Meinung der Minderheit. Die Vizepräsidentin des Verfassungsgerichts, Doris König, der scheidende Richter und frühere Saar-Ministerpräsident Peter Müller sowie Ulrich Maidowski halten ihren Kollegen praktisch ein Fehlurteil vor.
Die Richtermehrheit „erfasst Inhalt und Bedeutung des verfassungsrechtlichen Gebots der Normenklarheit im Wahlrecht nur unzureichend“, heißt es in der Begründung. Die Senatsmehrheit mute den Wahlberechtigten „eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung ,im Blindflug‘ zu“. Das entspreche nicht der „zentralen demokratischen Dignität des Wahlaktes“ und verwehre den Wählerinnen und Wählern „die ihnen in ihrer Rolle als Quelle demokratischer Legitimation zukommende Achtung“.
„Verstoß gegen Demokratieprinzip“
Die Minderheit sieht in den angefochtenen Paragraphen des Wahlgesetzes einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip und daraus folgend einen Verstoß gegen die Freiheit und die Gleichheit der Wahl. Letztere seien nur gewährleistet, „wenn die wesentlichen Regelungen für den durchschnittlichen Wahlberechtigten verständlich sind“. Denen müsse vor der Stimmabgabe erkennbar sein, „wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerberinnen und Wahlbewerber auswirken kann“.
Direkte Folgen hat das Urteil für die geplante Wiederholungswahl in Berlin. Zumindest in einigen Wahlbezirken in der Bundeshauptstadt soll die Bundestagswahl von 2021 wegen der Pannen am Wahltag wiederholt werden. So hat es der Bundestag beschlossen. Dagegen hat die Union geklagt, das Verfassungsgericht will seine Entscheidung am 19. Dezember verkünden. Die Wiederholungswahl kann nun nach den Regeln wie bei der Wahl 2021 stattfinden.
Vor der Entscheidung war spekuliert worden, ob und wie weit die nun getroffene Entscheidung auch auf das Verfahren zum Ampel-Wahlgesetz Anwendung finden könnte. SPD, Grüne und FDP haben im März eine Reform auf den Weg gebracht, nach der die gesetzliche Größe des Bundestags von 598 Mandaten wieder eingehalten werden kann.
Sicherheit für Ampel-Gesetz
Der Gesetzestext ist zwar nicht mehr ganz so kompliziert wie im Groko-Gesetz, aber immer noch ohne zusätzliche Informationsquellen für Normalwähler nicht ganz einfach nachvollziehbar. Mit der Mehrheitsentscheidung des Zweiten Senats ist das Ampel-Wahlgesetz in der Hinsicht nun aber sicher.
Ob die Minderheitsposition, nach der die Wahlberechtigten erwarten können, dass ein Wahlrecht einfach, klar und verständlich sein sollte, in dem von CDU, CSU und Linken angestrengten Verfahren zum geltenden Wahlgesetz noch Relevanz bekommt, ist unklar. Den Klägern geht es weniger um das Problem der Normenklarheit, sondern um die wahlrechtliche Neuerung der sogenannten Zweitstimmendeckung und der Tatsache, dass die Grundmandatsklausel abgeschafft ist. Die besagt, dass eine Partei in den Bundestag kommt, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnt. Damit entfällt dann für diese Partei die Fünfprozentklausel.
Zweitstimmendeckung bedeutet, dass nur so viele der in Wahlkreisen über die Erststimmen errungenen Direktmandate einer Partei zugeteilt werden, wie es der Sitzanspruch der Partei nach Zweitstimmen erlaubt. Damit werden Überhangmandate vermieden, indem die Direktmandate mit dem geringsten Erststimmenanteilen quasi gekappt werden. Ob erfolgreiche Direktbewerber also am Ende tatsächlich im Bundestag sitzen, ist erst am Wahlabend im Lauf der Auszählung des Gesamtergebnisses klar.
Das könnte insofern mit der Normenklarheit kollidieren, als die Ampel-Variante der personalisierten Verhältniswahl im Regelfall wie bisher auch schon Mandate an Wahlkreissieger nach Mehrheitswahl vergibt – nur eben im Ausnahmefall der Überhangsituation nicht. Darauf ließe sich unter anderen auch der Satz aus dem Minderheitenvotum anwenden, wonach politische Partizipation voraussetzt, dass die Wirkungen der Stimmabgabe „jedenfalls hinreichend konkret absehbar sind und bei der Wahlentscheidung berücksichtigt werden können“.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de