Zahlen Studierende bald mehr als Bankangestellte?: Wie das Deutschlandticket die Semestertickets bedroht
© imago/Sabine Gudath/imago/Sabine Gudath Zahlen Studierende bald mehr als Bankangestellte?: Wie das Deutschlandticket die Semestertickets bedroht
Beim Deutschlandticket sind Fragen für Studierende noch immer ungeklärt, vor allem in Berlin. Das traditionelle Semesterticket könnte mancherorts komplett vor dem Aus stehen.
Zwei Wochen vor dem geplanten Start des deutschlandweit gültigen 49-Euro-Tickets gibt es noch kein Angebot für Berliner Studierende. Damit sie nicht doppelt zahlen – für Semesterticket und 49-Euro-Ticket –, hatten die Verkehrsminister der Bundesländer Ende März eine sogenannte Upgrade-Lösung beschlossen. Demnach müssten Studierende nur den Differenzbetrag zu ihrem Semesterticket bezahlen, um das 49-Euro-Ticket zu erhalten.
In einigen Städten haben Verantwortliche für die praktische Abwicklung des Upgrades bereits Verfahren gefunden: Leipziger Studierende zahlen den Differenzbetrag an die dortigen Verkehrsbetriebe, in Hamburg organisiert der Asta die Anfragen für das Upgrade über eine eigene Seite.
An wen die Zahlungen in Berlin gehen, ob an die Universitäten, Studierendenausschüsse oder den Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB), und wo das Ticket erhältlich sein wird, ist dagegen noch immer ungewiss. Hinter den Kulissen herrscht Dissens über die Zuständigkeiten.
Wurde eine der schwächsten Gruppen vergessen?
„Eine Lösung ist noch nicht in greifbarer Nähe“, sagt Gabriel Tiedje, Referent für Hochschulpolitik im Allgemeinen Studierendenausschuss (AstA) der Technischen Universität Berlin. Strittig sei vor allem, ob der VBB oder die Berliner Hochschulen den Verwaltungsaufwand übernehmen.
Eine Sprecherin der Humboldt-Universität kritisiert dem Tagesspiegel gegenüber, dass sich die zuständige Senatsverwaltung „gemeinsam mit dem VBB, der BVG und der S-Bahn auf ein sehr kompliziertes Verfahren geeinigt hat, das den Aufwand im Wesentlichen bei den Hochschulen ablädt“. Die Hochschulen sollten demnach nicht nur diejenigen melden, die ein Upgrade erhalten möchten, sondern auch „den gesamten Zahlungsverkehr für die Verkehrsbetriebe abwickeln und hierbei sogar in finanzielle Vorleistung gehen“.
Die Senatsverwaltung verweist auf die „sehr kurze Abstimmungszeit“. Man suche „kein kompliziertes“, sondern ein „überhaupt praktikables Verfahren für alle Beteiligten“, teilt ein Sprecher dem Tagesspiegel mit. Dennoch räumt er ein: „Insofern ist ein Start am 1. Mai als sehr ambitioniert zu bewerten.“ Eine VBB-Sprecherin kommentierte die Vorwürfe nicht und erklärte lediglich, der Verbund und die beteiligten Verkehrsunternehmen „arbeiten mit Hochdruck an der Umsetzung“ des Upgrade-Modells. „Ob zum 1. Mai schon etwas umgesetzt werden kann, ist noch offen.“
Auch ganze Reihe weiterer Fragen zum 49-Euro-Ticket für Studierende ist ungeklärt – und nähren den Verdacht, dass bei einem Angebot, das den öffentlichen Nahverkehr für alle günstiger und einfacher machen sollte, eine der schwächsten Gruppen zu wenig berücksichtigt wurde.
Das Semesterticket könnte prinzipiell vor dem Ende stehen
So könnten durch das 49-Euro-Ticket die Semestertickets, die für Studierende an nahezu allen deutschen Universitäten lediglich zwischen 20 und 40 Euro kosten, vor dem Ende stehen. Ein 49-Euro-Ticket wäre dann die günstigste Möglichkeit, zur Universität zu kommen. Das bedeutet im Vergleich zum Semesterticket, das in Berlin im vergangenen Semester zum Beispiel rund 32 Euro pro Monat kostete, eine Preissteigerung um die Hälfte.
„49 Euro sind für viele Studierende einfach zu viel“, sagt Matthias Anbuhl, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks. Knapp 40 Prozent der deutschen Studierenden waren 2021 armutsgefährdet. 28 Prozent von ihnen haben weniger als 700 Euro pro Monat zur Verfügung. Die Rekordinflation schmälert das Budget zusätzlich. Da zählt jeder Euro.
Man muss von Berlin nach Dortmund blicken, um zu verstehen, warum das 49-Euro-Ticket eine Gefahr für die günstigeren Semestertickets darstellen könnte – und damit für den Geldbeutel von Studierenden.
Die Studierendenschaft der dortigen TU gab ein Gutachten bei einer Münsteraner Anwaltskanzlei in Auftrag. Es weckt Zweifel an der zukünftigen juristischen Haltbarkeit der solidarisch finanzierten Semestertickets. Bei ihnen teilen sich alle Studierenden einer Universität die Kosten fürs Fahren, egal, ob sie die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen oder nicht. Wer sie nutzt, spart im Vergleich zu regulären Tickets jede Menge Geld. In Berlin schlägt eine Monatskarte für das Tarifgebiet ABC mit 114 Euro zu Buche, ist also rund viermal so teuer wie das Semesterticket.
49 Euro sind für viele Studierende einfach zu viel.
Matthias Anbuhl, Vorstandsvorsitzender Deutsches Studierendenwerk
Mit dem 49-Euro-Ticket dagegen „muss es als zweifelhaft angesehen werden“, ob das Semesterticket weiterbestehen kann, heißt es in dem Gutachten, das dem Tagesspiegel vorliegt. Es bestünden „erhebliche Risiken“, dass Klagen einzelner Studierender gegen den „verpflichtenden Bezug“ des Semestertickets nun erfolgreich sein könnten.
Die Studierendenschaften Nordrhein-Westfalens hätten deshalb beim örtlichen Verkehrsverbund VRR um eine Senkung des Semestertickets von 220 auf 120 Euro gebeten, erklärt David Wiegmann, Asta-Vorsitzender der TU Dortmund. So wäre es wiederum erheblich günstiger als das 49-Euro-Ticket – und das Klagerisiko kleiner. „Es ist Aufgabe der Politik, das zu finanzieren“, sagt Wiegmann am Telefon. Die Studierendenschaft sei schließlich einer der zuverlässigsten ÖPNV-Kunden. „Keine Seite hat ein Interesse daran, dass die Verträge fürs Semesterticket gekündigt werden müssen“, erklärt Pablo Fuest vom fzs, dem Dachverband verfasster Studierendenschaften.
Auch eine mögliche Vergünstigung des 49-Euro-Tickets für Studierende ist für die meisten Bundesländer noch immer offen. Nur Bayern hat bereits eine Vergünstigung beschlossen, 29 Euro zahlen Studierende und Azubis hier ab September. Thüringen plant ein bundesweites Studi-Ticket für 28 Euro, das im Januar an den Start gehen soll. Für Berlin verweist die Senatsverwaltung auf eine „bundeseinheitliche Lösung für Studierende“, die zwischen Bund und Ländern erarbeitet werde.
Angestellte zahlen weniger als Studierende – selbst mit Rabatt
Als generellen Rabatt hatte Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) vor den Beratungen der Verkehrsminister zehn Prozent ins Spiel gebracht. Diese Zahl findet sich auch in ihrem Beschluss vom 23. März: Das „Sachsen-Modell“ werde für das Wintersemester 2023/24 „angestrebt“, heißt es darin. 44 Euro würde die Fahrkarte nach Abzug des Rabattes kosten. Damit wäre sie allerdings immer noch teurer als für viele reguläre Beschäftigte. Durch Zuschüsse ihrer Arbeitgeber können sie sich das Deutschlandticket für rund 34 Euro holen – als Jobticket. Zahlt dann ein Bankangestellter weniger für die öffentlichen Verkehrsmittel als ein Student?
Und die Ungerechtigkeit verschärft sich noch. Ist der Arbeitsweg von Beschäftigten länger als 40 Kilometer, dann kommen sie dank der Pendlerpauschale sogar kostenlos an das Ticket, wie das Portal „Nahverkehr Hamburg“ den Verkehrsplaner Christoph Aberle von der TU Hamburg zitiert. Die Verkehrsminister der Länder wollen Studierende laut ihrem Beschluss „am Mehrwert des Deutschlandtickets vollumfänglich partizipieren“ lassen. Heißt „vollumfänglich“ nun also, dass sie fast die vollen Kosten tragen, während Berufstätige gratis fahren? „Das Upgrade-Modell als Übergang bis zu einer bundesweiten Lösung hat Schwächen“, räumt der Sprecher der Berliner Senatsverwaltung ein.
Und was ist mit den Studierenden, die das Deutschlandticket gar nicht nutzen wollen, und die bei einer Abschaffung der Semestertickets deutlich mehr zahlen müssten? „Um die bestehenden Solidarmodelle bei Semestertickets für alle Studierenden auf Dauer rechtssicher zu erhalten“, heißt es im Beschluss der Verkehrsminister vom 23. März, „werden Bund und Länder kurzfristig einen Vorschlag zur Integration dieses Tickets in die Systematik des Deutschlandtickets erarbeiten“.
Die Zeit drängt
Das ist vier Wochen her. Auf Anfrage antwortet ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Verkehrsministeriums, das der bundesweiten Verkehrsministerkonferenz vorsitzt, am Montag fast wortgleich zum Beschlussdokument. Doch wie genau soll die Integration aussehen? Der angekündigte Vorschlag, er ist noch immer nicht da. Kurzfristig geht anders.
Den Studierenden läuft allmählich die Zeit davon. Im Mai müsse ein Finanzierungsmodell erarbeitet werden, damit die Beiträge für das Wintersemester festgelegt werden können, sagt Gabriel Tiedje vom Asta der TU Berlin. „Sonst steuern wir auf Probleme zu.“
Das Risiko von Klagen gegen das Semesterticket halte er in Berlin zumindest für das Sommersemester gering. Dafür sorgt der einmalige Zuschuss, den die scheidende rot-rot-grüne Regierung im Dezember beschlossen hat: Nur 20 Euro im Monat kostet die Fahrkarte aktuell, damit sie nicht teurer ist als das im April noch gültige 29-Euro-Ticket. Doch für das Wintersemester seien die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen, sagt der Studierendenvertreter. „Die Übergangssituation zwischen zwei Regierungen erschwert den Prozess.“
Bei der Erarbeitung des 49-Euro-Tickets wurden ganz viele Gruppen einfach vergessen.
Sven Heinemann, Landesgeschäftsführer Berliner SPD.
Sven Heinemann ist Landesgeschäftsführer der Berliner SPD. Seine Partei wird in der neuen Regierung die Wissenschaftssenatorin stellen. Das 49-Euro-Ticket sei nicht sorgfältig genug geplant worden, kritisiert er. Heinemanns Spitze geht auch gegen die bisherige Verkehrssenatorin Bettina Jarasch von den Grünen, deren Amtszeit wahrscheinlich in den nächsten Wochen endet.
„Bei der Erarbeitung des 49-Euro-Tickets wurden ganz viele Gruppen einfach vergessen“, sagt Heinemann. Deshalb erwarte er, dass die offenen Fragen zum Ticket für Studierende „bis zum Sommer geklärt sind“. Heinemann fordert eine dauerhafte Vergünstigung auf das deutschlandweite Ticket. „Und weil es nicht jeder Student brauchen wird, muss es weiterhin günstigere Semestertickets geben.“
Von der HU Berlin heißt es dagegen: „Die offensichtliche Lösung wäre, das Semesterticket ohne weitere Zuzahlung zum Deutschlandticket aufzuwerten.“ Das würde für Berliner Studierende, je nach dem, ob der Senat seine aktuellen Zuschüsse aufrechterhält, Kosten in Höhe von 20 oder 32 Euro im Monat bedeuten.
Das läge in einer Linie mit dem, wofür sich Studierendenvertreter stark machen. Ihr Sprecher Pablo Fuest bekräftigt die Forderung des Verbands fzs nach einem deutschlandweiten Ticket für 19 Euro im Monat. „Und langfristig sollte der öffentliche Nahverkehr für Studierende kostenlos sein.“
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de