Wladimir Kaminer über den Ukraine-Krieg: „Russlands Raketen sind nicht so gut, wie sie erscheinen“

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Wladimir Kaminer über den Ukraine-Krieg: „Russlands Raketen sind nicht so gut, wie sie erscheinen“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

© Tagesspiegel / Kitty Kleist-Heinrich

Der Berliner Schriftsteller war selbst in der Raketenabwehr stationiert. Hier spricht er über Putins Propaganda und Motive – und das Risiko eines Atomangriffs auf Deutschland.

Von Christian Hönicke

Herr Kaminer, Sie leben seit 1991 in Berlin-Prenzlauer Berg und erklären uns Deutschen seit Jahrzehnten als Schriftsteller die russische Volksseele. Was denken die Russen über den Krieg in der Ukraine?
Das sind zwei verschiedene Welten. Meine ukrainischen Freunde hier in Berlin wunderten sich, wie viele Russen auf einmal auf der Demonstration am Brandenburger Tor am Sonntag zu ihnen stießen. Wo waren sie früher, haben sie gefragt. Für sie läuft der Krieg schon acht Jahre. Dennoch war es beeindruckend. Ich glaube nicht, dass sich Russen und Ukrainer in Deutschland oder Europa gegenseitig erschlagen werden. Wir ziehen am gleichen Strang, wir sind in einer liberalen, demokratischen Gesellschaft und teilen deren Werte. Insofern sind die Russen, die hier leben, in gewisser Weise auch Ukrainer.

Und in Russland?
Alle Menschen, die bei Verstand sind, waren dort draußen und haben unter großem Risiko gegen den Krieg protestiert. Tausende wurden verhaftet, viele zusammengeschlagen. Auch Bekannte von mir. Die meisten Leute in Russland wissen aber leider überhaupt nicht, was in der Ukraine passiert. Sie glauben, es gibt da eine kleinere Invasion im Nachbarland auf Wunsch des ukrainischen Volkes. Nach der letzten Umfrage ist nur ein Fünftel der russischen Bevölkerung gegen den Krieg. Die meisten finden ihn richtig und gerecht. Die Russen wissen noch gar nicht, welche Folgen dieser Krieg haben wird. Das sollte ja ein Spaziergang sein, 24 Stunden hin und zurück.

 Ich glaube, dass das Wort eine noch stärkere Waffe ist als jede Atomrakete.

Wladimir Kaminer

Warum ist das so?
Propaganda. Russische Zeitungen sind voller Liebesbriefe an die „ukrainischen Brüder und Schwestern“. Heute habe ich einen Brief vom Verband der russischen Schriftsteller gelesen. Sie freuen sich, dass unsere ukrainischen Brüder endlich entnazifiziert werden und aus dem Joch des Westens wieder in unsere slawischen Bruderschaft zurückkehren können. Ich glaube, dass das Wort eine noch stärkere Waffe ist als jede Atomrakete. Man sieht das auch an Putin selbst. Das ist nicht nur meine Theorie, immer mehr Experten neigen dazu, sein Handeln als Folge der eigenen Propaganda zu erklären.

Putin als Opfer seiner eigenen Lügen?
Diese Geschichte mit den Neonazis und den Drogensüchtigen in der Ukraine hat er sich für das einfache Volk vor vielen Jahren ausgedacht. Und jetzt glaubt er offenbar selbst daran. Ich persönlich mache alles, um meinen ukrainischen Freunden und der Welt zu zeigen, dass die Russen keine Kannibalen sind. Sondern, dass dieses Volk selbst in einer komplizierten Situation ist und von Propaganda belogen wird und von einer Diktatur gefesselt ist. Da können Sie keine relevante Weltsicht entwickeln. Das Beste, was Russland passieren kann, ist den Krieg zu verlieren. Nur eine Niederlage kann zu einer Ernüchterung und einem Regimewechsel führen.

Dieses Muster tritt nicht zum ersten Mal in der Geschichte auf. Ist es zu weit hergeholt, Putins Russland mit dem Deutschland unter Hitler zu vergleichen?
Diese historischen Vergleiche hinken immer ein wenig, denn die Ereignisse wiederholen sich nie 1:1.

Aber Motive und Vorgehensweisen können sich ähneln.
Es gibt natürlich verdammt viele Ähnlichkeiten, auch in der Kriegsführung. Diese Vergleiche sind unumgänglich. Mein Freund Yuriy aus Charkiw hat mir vor Kurzem ein Bild geschickt, wie dort ein russischer Panzer auf der Siegesallee brennt. Diese Allee ist nach dem Sieg gegen den Faschismus so genannt worden. Vor 80 Jahren haben dort deutsche Panzer gebrannt. Das ist schon verrückt.

Sie kennen beide Welten. Welche Fehler hat Deutschland, hat der Westen im Umgang mit Russland und Putin gemacht?
Ich habe viel gehört von vielen Seiten. Über die Nato-Osterweiterung als Provokation. Aber was nutzt eine Verteidigungsallianz, wenn sie keine neuen Mitglieder aufnehmen darf? Ich habe oft gehört, dass Russland vernachlässigt wurde, dass diesem großen Land nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Aber irgendwie ist diese Sache faul. Kein Land kann sich beschweren, nicht ernst genug von den Nachbarn genommen zu werden. Das liegt doch voll und ganz im Wirkungsfeld eben dieses Landes. Wie es sich verhält, wie es sich anstellt.

Diese Invasion, die nicht nur gegen die Ukraine gerichtet ist, sondern gegen uns, gegen Europa, gegen die freie Welt, war von langer Hand geplant.

Wladimir Kaminer

Die Ignoranz des Westens ist ein Scheinargument?
Die gespielte Aufregung um die Osterweiterung der Nato war eine Nebelrakete. Einfach nur, um Munition in diesem Propagandakrieg zu sammeln. Ich glaube, dass diese Invasion, die nicht nur gegen die Ukraine gerichtet ist, sondern gegen uns, gegen Europa, gegen die freie Welt, dass die von langer Hand geplant war. Natürlich hat niemand in Russland, auch nicht Putin, Angst vor Estland oder Litauen. Russland wurde nie von irgendeinem Nato-Land angegriffen, nicht einmal verbal. Wer hat schon Angst vor der Nato? Das ist doch ein absurder Gedanke.

Warum stellt sich Putin gegen den Westen, anstatt sich ihm anzuschließen?
Ihm geht es darum, die moralische Überlegenheit der russischen Welt zu demonstrieren. Und gleichzeitig die Verdorbenheit der westlichen Welt. Wo Männer Männer heiraten, wo man für Kleingeld Bundeskanzler kaufen kann, wo es überhaupt keine immateriellen Werte mehr gibt. Im Grunde hat Putin die ganze Zeit eine Bergpredigt als verkannte Weltmacht an die Welt gehalten. Aber diesen Berg, den hat gar keiner gesehen. Das war glaube ich ausschlaggebend für seine Entscheidung, zum letzten Überzeugungsmittel zu greifen: zur Gewalt.

Haben Ihre Freunde und Bekannten in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, in Estland oder Lettland, Angst, dass sie als nächstes angegriffen werden?
Dort macht man sich keine Illusionen. Natürlich sind sie als nächstes dran. Sie befinden sich schon längst im Krieg. Die Armee ist das einzige Argument Russlands im großen Weltstreit. Deshalb kämpfen die Ukrainer nicht nur für sich, sondern für uns alle.

Ich habe selbst in der Raketenabwehr gedient und weiß, dass russische Raketen nicht immer fliegen. Das ist so ziemlich fifty-fifty.

Wladimir Kaminer

Sorgen Sie sich um Ihre Freunde und Familie in der alten Sowjetunion?
Natürlich sorge ich mich. Auch meine Kinder machen sich Sorgen. Jeder sollte sich Sorgen machen, wenn Putin Atomraketen aus den Bunkern holt. Aber ich habe auch Hoffnung.

Welche?
Ich habe selbst in der Raketenabwehr gedient und weiß, dass russische Raketen nicht immer fliegen. Das ist so ziemlich fifty-fifty. Die Waffen Russlands sind nicht so gut, wie sie erscheinen, wenn sie über den Roten Platz gefahren werden. Das ist nicht die stärkste Armee der Welt – das sieht man auch jetzt in den Kämpfen in der Ukraine. Die Russen ergeben sich auch in Massen. Ich glaube, in so einem Angriffskrieg, da sind sie nicht gut. Man ist ein guter Soldat, wenn man seine Heimat verteidigt. Aber wenn man in einem fremden Land kämpft, für ein ziemlich nebliges Ziel, das ist keine gute Voraussetzung für einen großen Erfolg. Für Europa hat der Krieg auch positive Seiten.

Wie meinen Sie das?
Noch nie war Europa so einig. Ich hoffe sehr, dass die Ukraine jetzt schnell in die EU aufgenommen wird. Auf den Schlachtfeldern der Ukraine entsteht eine neue, sehr souveräne europäische Identität.

Viele Menschen in Berlin haben dennoch Angst, dass die Raketen bis hierher reichen.
Ja, ich habe diese Angst auch. Wir wurden als Kinder ja schon für mögliche Atomangriffe trainiert. Das habe ich versucht, mit meinen Kindern zu üben. Aber die wissen das alles längst. Sie haben schon als Kleinkinder Videospiele gespielt, dadurch sind moderne Menschen auf Kriegssituationen vorbereitet.

Halten Sie einen Atomangriff auf Deutschland für möglich?
Psychologisch betrachtet kann sich Putin keine Niederlage erlauben. Das wäre ein heftiger Schlag gegen sein Regime. Ohne seine Herrschaft hätte das alles keinen Sinn, dann wären Menschen umsonst gestorben. Sein letzter Trumpf sind diese Atomraketen. Jetzt mehren sich auch solche Gespräche, dass er angeblich schon jemandem erzählt hat, er könnte sich vorstellen, im Fall der Fälle die Hauptstadt nach Nowosibirsk zu verlegen. Wenn Moskau etwa vernichtet wird. Das klingt nicht gut.

Glauben Sie diese Gerüchte?
Wer weiß schon, was in diesem Kopf vor sich geht? Der Mann ist immerhin bereits 70. Seine Kinder hat er bestimmt schon sicher irgendwo hinterm Ural versteckt. Dass er irgendwo hier in einem schwach besiedelten Territorium einen Atomsprengkopf zündet, um dem Westen noch einmal seine Entschlossenheit zu beweisen – das darf man nicht ausschließen.

Fühlen Sie sich persönlich gefährdet, als Regimekritiker?
Nein. Ich finde das schrecklich, peinlich und traurig. Aber ich bin nicht wegen mir persönlich verängstigt.

Sie fürchten nicht um Ihr Leben, wenn Sie im Kiez einen Tee trinken?
Also, so viel Gift produzieren die doch wirklich nicht. Sonst hätten sie ja einfach eine Giftmannschaft in die Ukraine schicken können, um die vermeintlichen Nazis und die Regierung aus dem Verkehr zu ziehen. Dafür braucht man doch wahrlich keine Artillerie.

Einige Prominente und Sportler wie der Tennisprofi Daniil Medvedev positionieren sich nun öffentlich gegen den Krieg. Ist das wichtig – oder sind das nur Lippenbekenntnisse?
Das ist mehr als wichtig. Es ist wichtig, den Russen überhaupt Informationen über das Grauen mitzuteilen, das ihr Land nun in die Welt bringt. Im russischen Fernsehen ist etwas Bemerkenswertes passiert. Der russische Harald Schmidt, der jeden Abend eine Show hatte, der witzigste Mann der Nation, hat gesagt, er geht wegen dem Krieg nicht mehr auf Sendung und verlässt Russland. Das war ein Riesenaufschrei. Eine sehr wichtige Moderatorin hat sich auch verabschiedet, mehrere Theaterdirektoren haben gekündigt, Musiker verlassen das Land. Langsam merken die Russen so, dass sich eine Katastrophe anbahnt. Besser spät, als nie.

Was können Sie persönlich tun?
In Russland erreiche ich zurzeit vermutlich überhaupt nichts. Ich schreibe viel darüber, nehme an allen möglichen Maßnahmen teil. Wir sammeln Geld für die Geflüchteten, die jetzt zu uns kommen, wir unterstützen die ukrainische Armee. Ich tue alles, um diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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