Trauzeugen-Affäre: Wie die Grünen Graichen fallen ließen
© REUTERS/MICHELE TANTUSSI Trauzeugen-Affäre: Wie die Grünen Graichen fallen ließen
Wochenlang wies Robert Habeck die Vorwürfe gegen seinen Staatssekretär zurück. Bei der Befragung im Ausschuss verlor Patrick Graichen dann das Vertrauen seiner Parteifreunde.
Von
- Daniel Friedrich Sturm
Von Rissen in einer „Compliance-Brandmauer“ spricht Robert Habeck. Patrick Graichen habe sich „zu angreifbar gemacht, um sein Amt noch wirkungsvoll ausüben zu können“, sagt der Wirtschaftsminister in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz. Deshalb seien Graichen und er „gestern Abend in einem persönlichen Gespräch darin übereingekommen, dass wir die gemeinsame Arbeit nicht fortsetzen“.
Habecks spontaner Auftritt am Mittwoch ist der vorläufige Höhepunkt einer Affäre, die schon wochenlang waberte und immer weitere Kreise zog. Doch was genau führte zum Rückzug Graichens, der ja immer wieder von Grünen als „unersetzbar“ beschrieben worden war? Eine Rekonstruktion.
Der Rückhalt schwindet Tag für Tag
Seit Bekanntwerden der „Trauzeugen-Affäre“ schwindet in den Spitzen von grüner Partei und Fraktion sowie bei den Wahlkämpfern in Bremen und Hessen der Rückhalt Graichens – und zwar Tag für Tag.
Wie groß die Skepsis ist, bekommt Habeck zum Beispiel am Dienstag vergangener Woche zu spüren. Schon früh am Morgen schalten sich die grünen Minister, die Partei- und Fraktionsführung sowie der hessische Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir zu einem Krisengespräch zusammen. Al-Wazir, muss man wissen, will mit der Landtagswahl im Oktober Ministerpräsident werden. Skandale der eigenen Partei sind das Letzte, was er gerade gebrauchen kann.
Wagenburg-Mentalität
Anlass des Krisengesprächs: Am nächsten Tag müssen sich Graichen und Habeck vor dem Wirtschaftsausschuss des Bundestages erklären. Al-Wazir, so berichten Eingeweihte, will erst einmal wissen, wie der Wirtschaftsminister und sein wichtigster Staatssekretär die Anhörung überstehen wollen. Später stellt er, unterstützt von Grünen-Chef Omid Nouripour, die Frage in den Raum, ob es nicht besser wäre, sich schnell von Graichen zu trennen. Habeck aber will davon nichts wissen, spricht nach Informationen aus Parteikreisen von einer „Kampagne“. Man dürfe jetzt nicht nachgeben. Das klingt nach Wagenburg-Mentalität.
Am Mittwoch voriger Woche treten Habeck und Graichen vor dem Wirtschaftsausschuss und Klimaausschuss des Bundestages auf. Der Termin ist aus mehreren Gründen speziell. Es kommen so viele Abgeordneten zusammen, dass man kurzerhand im SPD-Fraktionssaal tagt. Die „Ampel“ setzt eine geheime Sitzung durch.
„Das bedauere ich“
Graichen verstört seine Parteifreunde, wie man heute weiß, schon mit seinem ersten Statement. Heute sei ihm klar, er hätte sich aufgrund der Kandidatur seines Trauzeugen Michael Schäfer für die Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur „sofort aus der Findungskommission zurückziehen müssen. Ich habe gedacht, es genügt, wenn meine Stimme nicht den Ausschlag gibt, wenn ich mich in der Findungskommission bei der Bewertung seiner Person zurückhalte, das war falsch, das bedauere ich.“ Graichen also gibt zu, dass ihm die Angreifbarkeit seiner Position sehr wohl bewusst war.
Die Zweifel der grünen Wahlkämpfer sowie der Partei- und Fraktionsführung wachsen mit Graichens Auftritt. Zu Beginn des Wochenendes gibt es eine weitere Schaltkonferenz, bei der Al-Wazir, Nouripour sowie die Fraktionschefinnen Britta Haßelmann und Katharina Dröge massive Kritik an Graichens Darstellung äußern. Nach ihrer Einschätzung hat Habecks Staatssekretär die Lage mit seinem Satz, er habe nicht gedacht, dass seine Stimme ins Gewicht fallen könne, verschlimmert. Spätestens jetzt muss Habeck klar sein, dass er nicht mehr die volle Unterstützung hat, wenn er an Graichen festhält.
Interne Chats, SMS und Telefonate
Am Sonntag, während Bremen seine Bürgerschaft neu wählt, wächst der Druck auf Habeck weiter. Ab 16 Uhr zirkulieren in Grünen-Kreisen Prognosen für das niederschmetternde Wahlergebnis. Es droht das schlechteste Abschneiden seit einem Vierteljahrhundert. Bremen, die Grünen-Hochburg, das war einmal. Wahlkämpfer vor Ort beklagen „Gegenwind“ aus Berlin. Grünen-Chef Nouripour gibt das offen zu.
In internen Chats, in SMS und Telefonaten macht sich die mittlere Funktionärs-Ebene Luft. Tenor: Die Niederlage hat Habeck zu einem erheblichen Teil mitzuverantworten. Während die Bremer Spitzenkandidatin Maike Schäfer am Montag zurücktritt, ist von Selbstkritik im Hause Habeck nichts zu spüren. Noch nicht.
In Habecks Ministerium aber erfährt man von Medienrecherchen nach einem weiteren Graichen-Versagen. Das Haus ist alarmiert. Nun zieht der Minister spät, aber mit fester Hand, die Notbremse. Es kommt zu dem Gespräch Habeck-Graichen, über das Habeck am Mittwoch die Öffentlichkeit informiert.
Nun kommt noch Graichens Schwester ins Spiel
Habeck gibt den Chef-Aufklärer, indem er über einen „Sachverhalt“ berichtet: Dessen „Prüfergebnis ist der Grund für die heutige Pressekonferenz“. Jener Sachverhalt sei „bislang öffentlich nicht diskutiert“, er stelle dazu „nun Transparenz her“. Es geht um Geld. Graichen habe eine Liste mit drei Projektskizzen gebilligt, eines der Projekte stamme vom BUND Landesverband Berlin, es gehe um eine Fördersumme von knapp 600.000 Euro.
Diese Vorlage hätte Patrick Graichen laut Compliance-Regeln weder vorgelegt werden dürfen noch hätte er sie abzeichnen dürfen.
Robert Habeck (Grüne), Wirtschaftsminister
In jenem BUND-Landesverband Berlin sei die Schwester Patrick Graichens Vorstandsmitglied, war „laut Vereinsregister bis Mai 2022 Landesvorsitzende“. Das sei „als Compliance-Verstoß zu bewerten“, sagt Habeck: „Diese Vorlage hätte Patrick Graichen laut Compliance-Regeln weder vorgelegt werden dürfen noch hätte er sie abzeichnen dürfen.“
Die Rolle des Bundespräsidenten
Habeck kündigt an, er beabsichtige nun, „den Bundespräsidenten zu bitten, Patrick Graichen in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen“.
Wann aber genau wird Graichen in den Ruhestand versetzt? Am Tag nach Habecks Ankündigung, Christi Himmelfahrt, teilt die Sprecherin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf Tagesspiegel-Anfrage mit: „Eine Entlassungsurkunde für Staatssekretär Graichen liegt im Bundespräsidialamt nicht vor.“
Und Habecks Ministerium? Das reagiert auf die Frage, wann Graichen in den einstweiligen Ruhestand versetzt wird und ob der Vorgang bereits auf dem Weg ins Bundespräsidialamt ist, wolkig: „Das geht jetzt seinen ordnungsgemäßen Gang.“ Nähere Angaben ließen sich dazu „heute nicht machen“.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de