Süßigkeiten und Medien: Warum freier Zugang nicht bei jedem Kind funktioniert
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Warum können sich einige Kinder Naschkram und Medienzeit gut selbst einteilen, während andere kein Limit kennen? Zwei Experten erklären, wie Kinder Selbstregulation lernen.
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Wenn die Söhne von Anna eine Süßigkeit naschen wollen, ist das keine große Sache: In einem Regal in der Küche der Familie liegen Schokolade und Bonbons immer griffbereit. Die drei Jungs – sie sind zwei, acht und vierzehn Jahre alt, dürfen sich bedienen, wann immer sie wollen.
Ähnlich halte sie es beim Thema Fernsehen, erzählt die 42-Jährige aus Esslingen. Die Kinder dürfen sich den Fernseher einschalten, wenn sie möchten. Anna kann sich darauf verlassen, dass die Flimmerkiste auch wieder ausgestellt wird. „Sie schauen etwas und wenn es keinen Spaß mehr macht, schalten sie aus und gehen was spielen.“
In der Familie von Alex wäre das undenkbar. Die Chemnitzerin hat vier Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Eigentlich habe sie ihnen ebenfalls einen freien Zugang zu Medien und Süßem ermöglichen wollen, erzählt die 37-Jährige. Das habe aber überhaupt nicht funktioniert.
„Ich habe früh gemerkt, dass meine Kinder sich kaum selbst regulieren können“, berichtet Alex. „Selbstbestimmt ins Bett gehen hat nicht funktioniert, da sie nicht erkennen, wann sie müde sind. Süßigkeiten vernichten sie immer sofort. Und auch im Umgang mit Medien finden sie kein Ende.“
Das ganze Osterkörbchen auf einmal
Alex gibt Süßes deshalb nur noch dosiert heraus. Auch Bildschirmmedien erlaubt sie nur in begrenztem Umfang. „Ich denke mittlerweile, einige Kinder brauchen mehr Regeln und einen engeren Rahmen als andere, damit sie erfüllt und glücklich sind“, sagt Alex.
In der Menschheitsgeschichte war die schnell verfügbare Energie süßer Nahrung einst überlebenswichtig.
Soyoung Park, Leiterin der Abteilung „Neurowissenschaft der Entscheidung und Ernährung“ am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam
Dass Kinder sich unterschiedlich gut regulieren können, werden viele Eltern bestätigen. Selbst innerhalb ein und derselben Familie kann die Fähigkeit zur Selbstregulation schwanken: Dann isst eins der Kinder sofort sein Osterkörbchen leer, während das andere sich die Schokoeier sorgfältig einteilt und nach Tagen immer noch welche da sind. Wie kommt es zu diesen Unterschieden? Sind sie angeboren oder erlernt? Und was können Eltern tun, wenn sie merken, dass ihr Kind Süßem oder Medien einfach nicht widerstehen kann?
Süße Belohnung fürs Hirn
Soyoung Park ist die richtige Ansprechpartnerin für diese Frage. Die Charité-Professorin leitet die Abteilung „Neurowissenschaft der Entscheidung und Ernährung“ am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke. Dass Kinder oft Lust auf Süßes haben, findet Park zunächst völlig normal: „In der Menschheitsgeschichte war die schnell verfügbare Energie süßer Nahrung einst überlebenswichtig. Diese Vorliebe ist uns bis heute geblieben.“
Schon beim Anblick einer Süßigkeit steigt in bestimmten Hirnarealen das Dopaminniveau. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der immer dann vermehrt im Gehirn landet, wenn wir etwas Angenehmes tun. Jede Leckerei fühle sich dann wie eine Belohnung an. Allerdings seien Menschen durchaus dazu in der Lage, Versuchungen zu widerstehen: „Solche Entscheidungen spielen sich im präfrontalen Cortex ab, dem Gehirnbereich, der für höhere kognitive Prozesse zuständig ist“, erklärt Park.
In diesem Teil des Gehirns treffen wir die Entscheidung, ob wir noch ein fünftes Schokoei essen oder ob es für heute genug war. Wissenschaftlich untersucht wurde diese Fähigkeit schon oft, zum Beispiel im berühmten Marshmallow-Test. Den entwickelte der US-Psychologe Walter Mischel 1972. Vierjährigen Kindern wurde dafür in einem Testraum ein Marshmallow gereicht. Sie konnten es sofort essen – oder 15 Minuten warten, mit der Aussicht, dann noch ein zweites Marshmallow als Belohnung zu bekommen.
Wer warten kann, wird seltener süchtig
In Langzeitstudien fanden Mischel und sein Team heraus, dass jene Kinder, die den sogenannten Belohnungsaufschub beherrschten, also 15 Minuten warteten, später bessere Schulabschlüsse machten, erfolgreicher im Job und weniger anfällig für Substanzmissbrauch und Übergewicht waren. Zwar zeigten Folgestudien, dass dieser Effekt zu einem großen Teil auf den Einfluss des Elternhauses zurückzuführen war. Dennoch gilt es als erwiesen, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation einen präventiven Effekt etwa im Hinblick auf Suchtverhalten hat.
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Müssen sich Eltern von ständig naschenden Kindern also sorgen, dass der Nachwuchs später süchtig wird? Ist der schlechte Schulabschluss beim Neunjährigen, der immer an den Bildschirm will, bereits vorgezeichnet? Nein, sagt Kai Müller. Der Psychologe ist Vorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit. Süßigkeiten und bestimmte Medienarten seien nun mal Reize mit hohem Belohnungswert, erklärt er. Selbst vielen Erwachsenen falle es schwer, ihnen zu widerstehen. „Kinder bis zur Pubertät handeln impulsiver und das ist auch völlig richtig so. Ein Elfjähriger muss sich noch nicht wie ein disziplinierter Erwachsener benehmen können.“
Wenn das Kind den ganzen Tag auf den Belohnungsschub giert, ist das kein guter Lerneffekt.
Kai Müller, Psychologe und Vorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit
Zwar gehöre die Fähigkeit zur Impulskontrolle zu den Persönlichkeitsmerkmalen, sei also auch genetisch vorgegeben. „Wie gut wir mit Verführungen umgehen können, hängt zumindest zum Teil tatsächlich davon ab, wie bestimmte Gehirnstrukturen aufgebaut sind“, sagt Müller. Den weitaus größeren Einfluss habe aber die Sozialisation. „Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub wird größtenteils erlernt. Eltern können hier also viel ausrichten und haben eine Vorbildfunktion.“
Süßigkeiten in Sichtweite
Und wie sind wir gute Vorbilder? Sowohl Müller als auch Neurowissenschaftlerin Park halten völligen Verzicht auf Süßes und Medien oder sehr starkes Regulieren durch die Eltern für keine gute Idee. „Wenn das Kind den ganzen Tag auf den Belohnungsschub durch die 30 Minuten Bildschirmzeit am Abend giert, ist das kein guter Lerneffekt“, sagt Müller.
Auch Park hält nichts davon, Süßigkeiten vor den Kindern zu verstecken: „Die begehrte Nascherei wirkt dann unerreichbar, das Kind fühlt sich machtlos“. Besser sei es, Süßes zum Beispiel ganz oben auf dem Schrank, aber dennoch in Sichtweite zu platzieren. Und die Nascherlaubnis anzukündigen: „Nach dem Abendessen nehmen wir uns jeder noch drei Schokoeier.“
Überhaupt könnten Erwachsene häufiger den eigenen Umgang mit begehrten Dingen verbalisieren, findet Park. „Der Kuchen sieht lecker aus, am liebsten würde ich sofort reinbeißen, ihr auch? Aber wir warten, bis Oma da ist.“ Auch bei Medien könne das funktionieren. Der Satz „Ich glaube, ich war für heute genug am Handy. Wollen wir etwas basteln?“ zeige Kindern, dass es Alternativen gibt, die sich ebenfalls angenehm anfühlen, sagt Müller.
Rituale etablieren – aber richtig
Suboptimal sei es, wenn sich negative Gewohnheiten einschleichen, betonen beide Fachleute. „Der Körper merkt sich schnell, dass Mama beim Abholen aus dem Kindergarten jedes Mal Schokolade dabeihat. Fehlt die dann einmal, ist der Verzicht quälend“, sagt Park. „Das kennen wir Erwachsenen auch. Es genügt, dass wir drei Tage lang um 12 Uhr Mittag essen, schon fällt es uns unglaublich schwer, am vierten Tag bis 12.30 Uhr zu warten.“
Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub wird größtenteils erlernt. Eltern können hier also viel ausrichten und haben eine Vorbildfunktion.
Kai Müller, Psychologe und Vorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit
Positive Rituale seien dagegen sehr nützlich, findet Müller. „Zum Beispiel können Familien die Regel einführen, dass nach dem Essen niemand sofort zur Spielekonsole rennt, sondern alle gemeinsam den Tisch aufräumen“. Es sei die Verantwortung der Eltern, den Alltag zu strukturieren und den Kindern vorzuleben, dass es unterschiedliche Zeiten für Vergnügen, Pflichten und für Ruhephasen gebe. „Handeln die Eltern selbst sehr impulsiv und auch ihr Freundeskreis, können Kinder Selbstregulation kaum üben.“
Manche Kinder sind früher dran
Lebten Eltern Regulation dagegen vor, müssten sie sich keine Sorge machen, wenn es beim Nachwuchs noch nicht so gut klappt, sagt Park. „Wie bei der kindlichen Sprachentwicklung gibt es auch bei der Selbstkontrolle ein weites Spektrum. Einige Kinder beherrschen sie sehr früh, andere später.“ Auch sei ein Lebensweg infolge von schlechter Impulskontrolle nicht vorgezeichnet, betont Psychologe Müller. „Persönlichkeitsmerkmale können sich ändern, wenn bestimmte kritische Lebensphasen überwunden sind.“
So war es auch bei der Tochter der Chemnitzerin Alex. Die sei mittlerweile zwölf Jahre alt und schaffe es viel besser, sich zu regulieren, erzählt sie. „Draußen mit Freundinnen etwas zu erleben ist ihr jetzt so wichtig, dass sie dafür gern den Fernseher ausschaltet.“ Anders sei es beim jüngeren Bruder: „Mein Achtjähriger kann nur mit viel Wut und Trauer aufhören. Für ihn ist es am besten, wenn er nur ab und zu mal vorm Bildschirm sitzen darf, dafür aber etwas länger.“
Vorbild sein, nicht immer nach der Kita Eis essen und ansonsten geduldig sein: Sollten Eltern sonst noch etwas beherzigen, wenn es um die Selbstregulation ihrer Kinder geht? Ja, sagt Park. „Sie sollten sich bewusst machen, dass Selbstkontrolle eine endliche Ressource ist.“
Genau wie wir Erwachsenen nach einem anstrengenden Tag manchmal nur noch mit der Chipstüte in der Hand Netflix gucken wollen, sei auch bei Kindern die Bereitschaft zum Verzicht nach einem langen Schul- oder Kitatag mal aufgebraucht. „Dann können sie nicht mehr vernünftig sein. Uns Eltern muss das aber nicht sorgen, da wir den Grund schließlich kennen.“
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de