Steigende Flüchtlingszahlen: Schwindet der Zusammenhalt in Europa?
© AFP/Bearbeitung: Tagesspiegel Steigende Flüchtlingszahlen: Schwindet der Zusammenhalt in Europa?
Immer mehr Menschen versuchen, über das Meer nach Europa zu kommen. Drei Experten analysieren, was das für die EU bedeutet.
In diesem Jahr sind nach Angaben der Vereinten Nationen bislang 83 Prozent mehr Menschen über das Mittelmeer in Europa angekommen als im Vorjahreszeitraum. Zerbricht damit der Zusammenhalt der Europäischen Union in der Migrationspolitik? Drei Experten antworten. Alle Folgen von „3 auf 1“ finden Sie hier.
Verstöße gegen EU-Recht müssen auch tatsächlich sanktioniert werden
Judith Kohlenberger ist Migrationsexpertin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie sagt: Vor allem in Deutschland und Österreich wächst der Migrationsdruck.
Seit Jahren lässt sich auf europäischer Ebene ein fataler Unterbietungswettbewerb beobachten: Einzelne Mitgliedstaaten, darunter Ungarn, Polen und Griechenland, entziehen sich ihrer Asyl-Verantwortlichkeit, indem sie eine höchst restriktive Migrationspolitik fahren, Aufnahmestandards für Geflüchtete nach unten nivellieren oder das Asylrecht gleich ganz aussetzen.
In der Folge verteilt sich der Druck immer ungleicher auf die verbleibenden Mitgliedsstaaten, die (noch) EU-rechtliche Verpflichtungen einhalten und Schutz gewähren, allen voran Deutschland und Österreich.
Auch das viel gelobte dänische Modell funktioniert nur, weil es in unmittelbarer Nachbarschaft Länder gibt, die weiterhin Migranten aufnehmen. Ankunftszahlen werden dadurch umgelenkt, was zulasten der ohnehin bröckelnden europäischen Solidarität geht.
Um den Zusammenhalt in Europa nicht noch weiter zu gefährden, gilt es, Verstöße gegen EU-Recht auch tatsächlich zu sanktionieren. Erst im Frühling stellte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs erneut fest, dass Ungarns Asylregeln nicht EU-rechtskonform seien. Nun wäre es höchst an der Zeit, dass Geldstrafen folgen. Sonst bleibt der Lerneffekt: Richten sollen es die anderen.
Die EU-Reform wird das Chaos nicht beseitigen
Sabine Hess ist Direktorin des Center for Global Migration Studies an der Universität Göttingen. Sie sagt: Das „Europa von unten“ ist in der Flüchtlingshilfe gut aufgestellt.
Zusammenhalt? Hier sind zwei Rückfragen geboten: Zusammenhalt zwischen wem? Und zu welchem Zweck? Denn auf zivilgesellschaftlicher Ebene wird, von Lampedusa bis nach Litauen, von Tausenden Menschen weiter Hilfe und ein Ankommen von Fliehenden organisiert.
Ein Europa von unten ist gut aufgestellt und vernetzt – trotz harscher Kriminalisierung von Helfer*innen. Sie machen deutlich, dass Würde unteilbar und Rechte kein Luxus sind, die je nach Stimmungslage geopfert werden können.
Ganz anders sieht es auf staatlicher Seite aus: Hier hat eine Politik des Zusammenhalts – auch in Flucht- und Migrationsfragen auf EU-Ebene – noch nie wirklich gegolten; hier hat sich die Macht der Stärkeren, lange waren das Deutschland und Frankreich, durchgesetzt, mit der Devise, die Fluchtproblematik wegzudelegieren, an die EU-Grenzstaaten, oder weiter an Drittstaaten.
Warum sollte also die neue Reform des europäischen Asylsystems, die zentral auf Asylverfahren an den Außengrenzen setzt und nur einen „flexiblen Solidaritätsmechanismus“ im Angebot hat, das politische Chaos beseitigen?
Gefährlicher Streit zwischen Deutschland und Italien
Albrecht Meier arbeitet im Hauptstadtbüro des Tagesspiegels. Er sagt: Die EU ist geschlossener als während der Flüchtlingskrise von 2015.
Zunächst einmal: Die EU macht derzeit in der Migrationsfrage in keinem Fall eine existenzielle Krise durch, wie das 2015 beim Beinahe-Rauswurf Griechenlands aus dem Euro der Fall war. Die Gemeinschaft ist sogar geschlossener als während der Flüchtlingskrise von 2015/2016.
Damals nahm Deutschland eine Sonderrolle ein: Weil die Flüchtlinge seinerzeit in erster Linie nach Deutschland kamen, hatte hauptsächlich auch die damalige Kanzlerin Angela Merkel ein Interesse daran, einen Pakt mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu schließen. Heute sind sich die 27 EU-Staaten – auch Deutschland – mehr oder weniger einig, dass die irreguläre Migration an den Außengrenzen reduziert werden muss.
Polen und Ungarn sind Quertreiber bei der geplanten Reform des EU-Asylsystems. Aber das waren die beiden Länder auch schon während der Flüchtlingskrise von 2015/2016. Gefährlicher ist da schon der aktuelle deutsch-italienische Disput über die Rettung von Schiffbrüchigen im Mittelmeer. An derartigen Streitereien könnte die gesamte Reform des EU-Asylsystems noch scheitern.
- 3 auf 1
- Angela Merkel
- Die EU
- Europapolitik
- Migration
- Mittelmeer
- Österreich
- Recep Tayyip Erdoğan
- Ungarn
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de
Kommentare sind geschlossen, aber trackbacks und Pingbacks sind offen.