Schnappschuss aus dem Leben der Neandertaler: Die Familie aus der Chagyrskaya-Höhle
© Tom Bjorklund Schnappschuss aus dem Leben der Neandertaler: Die Familie aus der Chagyrskaya-Höhle
Neandertaler in Sibirien lebten in kleinen, familiären Gruppen. Für genetische Vielfalt in den frühmenschlichen Patchwork-Familien sorgten nicht die Männer.
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„Unsere Studie lässt mir die Neandertaler viel menschlicher erscheinen“, sagt Benjamin Peter vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA). Ein Team um Peter und den Erstautoren Laurits Skov legt mit einer genetischen Analyse ein Bild davon vor, wie eine Neandertalergemeinschaft vor etwa 54.000 Jahren ausgesehen haben könnte.
Demnach könnten die nächsten bekannten Verwandten des modernen Menschen (Homo sapiens) in Gruppen von etwa 20 Individuen gelebt haben. Mehr als die Hälfte der Frauen in der Gruppe entstammte anderen Familien während die jungen Männer lebenslang in der Gruppe blieben.
Die Verstorbenen waren verwandt, müssen daher etwa im gleichen Jahrhundert gelebt haben.
Benjamin Peter, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Die Forschenden haben das Erbgut von 13 Individuen untersucht, von denen Knochen- und Zahnmaterial in der Chagyrskaya-Höhle und der etwa 100 Kilometer entfernten Okladnikov-Höhle gefunden wurde. Die Höhlen liegen im Altai-Gebirge in der heutigen Mongolei am östlichen Rand des bekannten Verbreitungsgebietes der Neandertaler (Homo neanderthalensis), wo diese Menschen auch auf die nahe verwandten Denisova-Menschen getroffen sind.
Die jetzt untersuchten Überreste stammen von sieben männlichen und sechs weiblichen Neandertalern, von denen zu ihrem Todeszeitpunkt acht erwachsen und fünf noch Kinder und Jugendliche waren, berichtet das Forschungsteam im Fachjournal „Nature“. Unter den elf Neandertalern, deren Überreste in der Chagyrskaya-Höhle gefunden worden sind, waren ein Vater und seine Tochter im Teenageralter. Außerdem wurden weitere Verwandte zweiten Grades identifiziert: ein kleiner Junge und eine erwachsene Frau, die vielleicht eine Cousine, Tante oder Großmutter war.
Svante Pääbo ist Direktor am MPI-EVA und wurde für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Paläogenetik in diesem Jahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. © picture alliance/dpa / Friedrun Reinhold
Eine plausible Erklärung der Funde ist, dass die Gruppenmitglieder durch ein Unglück zur gleichen Zeit starben. „Genau belegen können wir das aufgrund der Ungenauigkeiten bei der Datierung aber nicht“, sagte Peter dem Tagesspiegel. Die Datierungsmethoden hätten für den untersuchten Zeitraum eine Ungenauigkeit von einigen Jahrhunderten bis zu Jahrtausenden. „Von den genetischen Daten können wir nur sagen, dass die Verstorbenen verwandt waren, daher etwa im gleichen Jahrhundert gelebt haben müssen“, sagt Peter.
In der mütterlich vererbten mitochondrialen DNA fanden die Forscherinnen und Forscher bei mehreren der Individuen zudem gleichartig veränderte Gene. Bei dieser Heteroplasmie handelt es sich um genetische Variationen unter den Mitochondrien, die nur über wenige Generationen weitergegeben werden. Sie ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Neandertaler in der Chagyrskaya-Höhle etwa zur gleichen Zeit gelebt haben und der gleichen sozialen Gemeinschaft angehörten.
Höhle mit Ausblick: Die Chagyrskaya-Höhle ist eine der ergiebigsten Fundstellen von Neandertalerüberresten weltweit. © Bence Viola
In der Höhle wurden in den letzten Jahren mehr als 80 Knochen- und Zahnfragmente von Neandertalern ausgegraben. Die Neandertaler, die sie und die Okladnikov-Höhle nutzten, jagten in dem Gebiet Steinböcke, Pferde, Bisons und andere Tiere, die durch die Flusstäler zogen. Für ihre Steinwerkzeuge sammelten sie Rohmaterial in kilometerweit entfernten Gebieten. Dass dasselbe Rohmaterial in beiden Höhlen genutzt wurde und dass es auch genetische Gemeinsamkeiten gibt, spricht für eine enge Verbindung beider Gruppen.
Zwar bewohnten Neandertaler das Altai-Gebirge schon vor etwa 120.000 Jahren. Die genetischen Daten zeigten jedoch, dass die Neandertaler aus den beiden Höhlen nicht von diesen früheren Gruppen abstammten, sondern näher mit europäischen Neandertalern verwandt sind, sagen die Forschenden. Dafür spricht auch das archäologische Material: Die Steinwerkzeuge aus der Chagyrskaya-Höhle sehen Fundstücken aus der aus Deutschland und Osteuropa bekannten Micoquien-Kultur ähnlich.
Die Analyse des Erbguts zeigte auch, dass die genetische Vielfalt innerhalb dieser Neandertalergemeinschaft extrem gering war. Sie entsprach einer Gruppengröße sich fortpflanzender Individuen von zehn bis 20. Sie ist damit viel niedriger als die Werte, die für alle antiken oder heutigen menschlichen Gemeinschaften ermittelt wurden. Sie entspreche eher den Gruppengrößen von gefährdeten Arten am Rande des Aussterbens, wie etwa den Berggorillas, bei denen die Populationsgröße seit einigen Jahrzehnten unter 1000 Individuen liegt.
Ungeklärt bleibt vorerst, ob die genetische Verarmung unter Neandertalern häufig war oder ob sie eine Folge der Abgelegenheit des Gebietes war, das diese Individuen bewohnten, schreibt Lara Cassidy vom Trinity College Dublin in einem Kommentar in derselben Nature-Ausgabe.
Allerdings lebten die Neandertaler nicht in völlig isolierten Gemeinschaften. Durch den Vergleich der genetischen Vielfalt auf dem Y-Chromosom, das von Vater zu Sohn vererbt wird, mit der Vielfalt der mitochondrialen, mütterlich vererbten DNA konnten die Forscher zeigen, dass die Frauen zwischen den Gemeinschaften wechselten. Die mitochondriale genetische Vielfalt ist viel höher als die auf den Y-Chromosomen, was darauf hindeutet, dass die Männer häufiger lebenslang in der gleichen Gruppe blieben.
Der erste Entwurf eines Neandertaler-Genoms wurde 2010 veröffentlicht. Seitdem haben Forschende am MPI-EVA weitere 18 Genome aus 14 verschiedenen archäologischen Fundstätten in Eurasien sequenziert. Gruppenleiter und auch an der aktuellen Studie beteiligt ist Svante Pääbo, der kürzlich „für seine Entdeckungen bezüglich der Genome ausgestorbener Menschenartiger und der menschlichen Evolution“ mit dem Nobelpreis in der Kategorie Physiologie ausgezeichnet wurde. Pääbo gilt als Begründer der Paläogenetik, der Analyse von Erbinformation vergangener Lebensformen. Sie geht auch der grundlegenden Frage nach, was den modernen Menschen einzigartig macht.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de