Lehren aus Fukushima: „Wir müssen die Bevölkerung besser auf mögliche Reaktorunfälle vorbereiten“ 

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Lehren aus Fukushima: „Wir müssen die Bevölkerung besser auf mögliche Reaktorunfälle vorbereiten“ 

© dpa/Christophe Karaba Lehren aus Fukushima: „Wir müssen die Bevölkerung besser auf mögliche Reaktorunfälle vorbereiten“ 

Der Nachhaltigkeitsforscher Ortwin Renn sieht hierzulande kaum die Gefahr eines Super-GAUs. Doch er fordert, dass nicht nur Profis trotzdem dafür üben.

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Ortwin Renn (69) ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls „Technik- und Umweltsoziologie“ an der Universität Stuttgart. Hier spricht er darüber, warum der deutsche Atomausstieg aus seiner Sicht nach wie vor richtig ist – und warum Deutsche mehr Angst vor der Kernkraft haben als Menschen der meisten anderen Nationen.

Herr Renn, vor zehn Jahren kam es nach einem Starkbeben und Tsunami zu dem verheerenden Reaktorunglück in Fukushima. Zehntausende mussten ihre Häuser verlassen, eine Sperrzone so groß wie München besteht bis heute. Trotzdem hält Japan an dieser Energiequelle fest. Wie ist das zu erklären?
Einerseits ist es der Gedanke, dass ich eine Energiequelle, auf die ich strategisch auf längere Sicht gesetzt habe, nicht einfach aufgeben will. Zum anderen ist die Wahrnehmung dort anders. Während in Deutschland vor allem die Reaktorkatastrophe in Erinnerung geblieben ist, steht in Japan der verheerende Tsunami mit all seinen Folgen im Vordergrund.

Zudem sind die radiologischen Auswirkungen des Super-GAUs auf die Gesundheit relativ harmlos geblieben. Schließlich möchte die japanische Regierung zwar den Anteil fossiler Energieträger reduzieren, sieht aber, dass der Ausbau der Erneuerbaren noch nicht für die Versorgungssicherheit ausreicht. So hat man sich entschlossen, die Sicherheitsvorkehrungen zu erhöhen und weiter auf Kernenergie zu setzen.

Aus radiologischer Sicht waren die weitreichenden Evakuierungen sehr wirksam. Es sind keine Fälle von Strahlenkrankheit aufgetreten und auch bei Krebs ist bislang keine Häufung erkennbar, die ursächlich auf den GAU zurückzuführen wäre. Auf der anderen Seite stehen mehr als 2000 Todesfälle in der Präfektur Fukushima im Zusammenhang mit der Evakuierung: von schlechter medizinischer Versorgung bis zu gehäuften Suiziden als Ursachen. Waren die Behörden übervorsichtig?
Die Behörden mussten in einer Krise rasch reagieren. Da verwundert es nicht, dass nicht alles perfekt abläuft. Hätte man nicht evakuiert und mehr Strahlenschäden in Kauf genommen, würde heute darüber diskutiert, warum nicht genug zum Gesundheitsschutz unternommen wurde. Aus meiner Sicht war es richtig, schnell zu evakuieren und so die Strahlenbelastung gering zu halten. Allerdings hätte man die Bevölkerung vorab besser auf einen möglichen Reaktorunfall und die Evakuierung vorbereiten können.

Lehren aus Fukushima: „Wir müssen die Bevölkerung besser auf mögliche Reaktorunfälle vorbereiten“ 

Ortwin Renn, Archivbild, aufgenommen 2016. © picture alliance / dpa / Peter-Paul Weiler

Die Behörden sollten also nahe Kernkraftwerken, auch hier in Deutschland, mit der Bevölkerung das Verhalten bei Havarien üben?
Unbedingt. Ich bin fest davon überzeugt, dass solche Übungen keinesfalls Panik schüren, wie es oftmals befürchtet wird. Man kann den Menschen damit Zuversicht geben, dass die Krisenmaßnahmen wirksam sind. Es muss nicht alles bis ins letzte Detail eingeübt werden, aber doch die wesentlichen Schritte: Vom ersten Alarm über die Beurteilung der Lage und die Bereitstellung von Bussen, die Abholung von Schülerinnen und Schülern bis hin zum Aufbau von Notunterkünften und so weiter sollte mit den potentiell betroffenen Anwohnern und Anwohnerinnen geprobt werden.

Dabei wird es Pannen geben, aber genau das ist gewünscht, denn aus diesen Fehlern lernt man für den Ernstfall. Unterm Strich schafft man mehr Vertrauen bei der Bevölkerung, wenn diese eingebunden ist, als wenn professionelle Akteure wie die Feuerwehr oder das Rote Kreuz hinter verschlossenen Türen trainieren.

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Infolge des GAU in Fukushima wurde in Deutschland der Atomausstieg vorgezogen. Spätestens Ende 2022 soll der letzte Reaktor vom Netz gehen. Die richtige Entscheidung?
Ich war selbst in die Ethikkommission berufen worden, die damals die Regierung beraten hat. Und ich stehe voll hinter der Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernenergie, obwohl ich diese nach wie vor nicht als Teufelswerk ansehe. Die modernen Kraftwerke sind auf einem sehr hohen technischen Sicherheitsstandard, und die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Super-GAU kommt, ist sehr gering.

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Die Katastrophe von Fukushima. © Tsp

Kommt es aber dazu, sind die Folgen in dicht besiedelten Ländern wie Deutschland unübersehbar. Dazu gibt es noch weitere Risiken wie der Endlagerung des radioaktiven Abfalls, für die es noch immer keine wirklich überzeugende Lösung gibt. Und wir haben im Energiebereich realistische Alternativen, die der Gesellschaft keine katastrophalen Risiken auferlegen. Deshalb habe ich den Entschluss zum Atomausstieg mitgetragen. Ich meine aber auch, dass dieses Abwägungsergebnis nicht für die ganze Welt gelten muss. Andere Länder können zu anderen Einschätzungen kommen. Entscheidend ist, dass Beschlüsse zur Kernenergie sachbezogen und demokratisch gefasst werden. 

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06.03.2021, Berlin, Demonstration unter dem Motto «10 Jahre nach Fukushima: Atomkraft ist kein Klimaretter» © dpa/Christophe Gateau

Dafür laufen bei uns Kohlekraftwerke länger, um die Lücke des fehlenden Atomstroms zu füllen. Mit einem enormen Ausstoß an Treibhausgasen und laut Schätzungen auch Tausenden vorzeitigen Todesfällen infolge der Luftverschmutzung…
Das ist ein Übergangsphänomen, dass wir mit den Erneuerbaren nicht so schnell die Lücke füllen können, die durch das Auslaufen der Kernenergie entsteht. Ich glaube aber auch nicht, dass wir schneller aus der Kohleverstromung ausgestiegen wären, wenn wir die Kernenergie beibehalten hätten. Das war politisch kaum konsensfähig. Und die Weiterführung der Kernenergie hätte schnell zu einer Paralyse der Energiepolitik geführt. Von daher ist es schmerzlich, dass wir mit der Kohle nun länger brauchen, aber wir kommen hier voran. Von einer Renaissance der Kohle würde ich deshalb nicht sprechen, das Ende ist absehbar.

Unterscheiden wir Deutsche, ob ein Gesundheitsschaden durch Kohle- oder Atomkraftwerke droht? Man hat den Eindruck, das eine wird als weniger gefährlich erachtet als das andere.
 Vollkommen richtig. Wenn ich rein mathematisch die Risiken auf der Basis von Wahrscheinlichkeit mal Schadensausmaß kalkuliere, wäre es sinnvoller, Kernkraftwerke zumindest so lange zu betreiben, bis das letzte Kohlekraftwerk vom Netz geht.

Aber wir sehen, dass nicht nur das Risiko entscheidend ist, sondern auch die maximale Höhe des Schadens, der eine Gesellschaft überproportional treffen kann. Dazu kommt die mangelnde Akzeptanz und das Angstpotenzial, das durch die Aussicht auf große Störfälle ausgelöst wird. Ich halte es aus heutiger Sicht für klug, dass man den Atomausstieg beschlossen und zugleich den Weg aus der Kohle vorgezeichnet hat.

Andere Länder halten an der Kernenergie fest, manche wollen sie sogar einführen, etwa Polen. Wie kommt es, dass Nationen die damit verbundenen Gefahren so unterschiedlich bewerten?
Diese Frage haben sich viele Expertinnen und Experten aus Psychologie und Sozialwissenschaft gestellt: Warum wird Kernenergie hierzulande mehr stigmatisiert? Befragungen belegen klar, dass die Ablehnung bei uns deutlich größer ist als in den meisten anderen europäischen Ländern.

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Angestrahlt. Das Atomkraftwerk Grohnde kann bis jetzt noch für seine eigenen Beleuchtung sorgen. Bald sollen aber auch hier die Brennstäbe ausgehen. © picture alliance/dpa

Die genauen Ursachen kennen wir nicht, aber drei Erklärungen erscheinen mir plausibel: Zunächst reagieren Länder, die wenig anderen Gefahren ausgesetzt sind, stärker auf hypothetische Bedrohungen. In Japan oder den USA, wo es viele Naturgefahren gibt, erscheinen die Gefahren der Kernenergie relativ harmlos. Der zweite Grund betrifft Gesellschaften, die noch einen großen Modernisierungsschub erwarten, um ihren Lebensstandard zu erhöhen. Die Menschen haben dort eine größere Risikobereitschaft, um ihr Ziel zu erreichen.

Und der dritte Grund?
Der ist gerade in Deutschland weit verbreitet: Die Menschen befürchten, dass mit der Kernenergie nur große Energiekonzerne gestärkt werden. Das missfällt vor allem jenen, die eine zu enge Verbindung zwischen Politik und Großindustrie sehen. Dieses Misstrauen gilt auch bei anderen Branchen, etwa im Pharma- oder Digitalbereich. Wenn der Eindruck entsteht, dass sich viel Macht an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik konzentriert und im Hintergrund Fäden gezogen werden, dann steigt das Misstrauen und es sinkt die Akzeptanz für die dort bereitgestellten Lösungen.

Das ist auch in Debatten um Grüne Gentechnik oder Glyphosat zu beobachten. Ist das die vielzitierte „German Angst“?
Fast alle Länder haben spezifische Themen oder Projekte, auf die sie mit Akzeptanzverweigerung reagieren. In England beispielsweise ist der Tierschutz ein viel konfliktreicheres Thema als hier, da werden fast täglich Tiere aus Käfigen befreit. Es gibt also unterschiedliche Sensibilitäten. Und es gilt, was ich bei der Kernenergie gesagt habe: Je saturierter eine Gesellschaft ist, umso sensibler ist sie gegenüber technischen Risiken, auch wenn größere Unfälle in diesen Ländern selten geworden sind. Wenn dazu noch wie bei der Grünen Gentechnik der Nutzen für Konsumenten und Konsumentinnen nicht klar ist, sinkt die Akzeptanzbereitschaft.

Denn es gibt auch ohne diese Technologie alle Produkte, die man haben möchte, zu vergleichsweise günstigen Preisen. Zudem gibt es viele zivilgesellschaftliche Gruppen aus der Umweltbewegung, die sich klar gegen Grüne Gentechnik positionieren. Bei der Roten Gentechnik hingegen ist der Nutzen viel deutlicher für die Patienten. Obwohl die diskutierten Gefahren dort ebenso oder noch in höherem Maße bestehen, nimmt man sie in Kauf. Hier gibt es kaum Widerstand.

Lassen Sie uns noch einmal zur Kernenergie zurückkehren. Der Ausstieg ist beschlossen, der Atommüll muss weg. Werden wir auf absehbare Zeit ein Endlager haben, das sicher ist und von der Bevölkerung akzeptiert?
Schweden, Finnland und auch die Schweiz zeigen, dass gute partizipative Verfahren durchaus wirksam sind. Aber auch ein überzeugendes Verfahren ist noch kein Garant für Erfolg. Das ganze Thema ist so stigmatisiert, dass wir keine Gemeinde in Deutschland finden werden, die sich freiwillig dazu bereit erklären wird, ein Endlager bei sich einzurichten. Ein lokaler Volksentscheid würde mit großer Sicherheit zu einer Ablehnung führen. Dennoch ist die Bürgerbeteiligung zentral. Die Partizipation muss dabei regional verankert sein, ohne dass nur regional entschieden wird, und eine klare Nutzenperspektive bieten, ohne dass es als Bestechung empfunden wird. Das Feld ist sehr sensibel. Doch ich bin optimistisch, dass gute Vorschläge für das Verfahren formuliert werden und diese zum Ziel führen.

  • Atomkraft

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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