Lächeln, Berlin: Über die mitreißende Aura gehobener Mundwinkel
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Lächeln, Berlin: Über die mitreißende Aura gehobener Mundwinkel
Jeder weiß es, kaum einer tut es: Lächeln ist bezaubernd, macht froh und wird oft umgehend positiv beantwortet. Claudia Seiring betreibt regelmäßig Feldforschung im öffentlichen Raum.
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Er ist schon von weitem zu hören: „Guten Morgen, schöne neue Woche wünsche ich. Ich habe zurzeit keine Wohnung und würde mich über ein bisschen Kleingeld für einen Kaffee oder ein Brötchen freuen. Oder sie schenken mir ein Lächeln.“ Sofort muss ich lächeln, dabei sehe ich ihn noch gar nicht.
Der Obdachlose, der an diesem Morgen durch den Waggon der S1 schlurft, macht keinen einfachen Job: Er ist in Berlin, es ist Montag, Oktober und der Himmel schickt Nieselregen. Je näher er uns kommt, desto tiefer sinken die Mundwinkel der anderen. Bloß nichts preisgeben, bloß nicht ins Gespräch verwickelt werden, bloß nicht …
Nach den Ferien – ob Sommers oder jetzt im Herbst – wird gerne vom Urlaub geschwärmt, von der Kultur, in der man sich so willkommen fühlte, von der Freundlichkeit der Menschen – wahlweise im Süden/im Norden/auf den Inseln/auf dem Land: „So herzlich!“, „So unkompliziert!“, „So zugewandt!“ Und? Niemand hindert uns daran, auch so zu sein.
Am Ende des Tunnels ist kaum Licht
Ja, ich weiß. Die Zeiten sind furchtbar. Es ist schwer, überhaupt noch an ein Licht am Ende des Tunnels zu glauben, geschweige denn, es zu sehen. Im Gegenteil: Andauernd kommt noch etwas hinzu. Man muss sich nur mal überlegen: Vor einem Monat wussten wir noch nichts vom Krieg in Nahost, war Israel noch nicht brutal überfallen worden! Und nun sind wir mittendrin.
Es kann sehr hoffnungslos machen, auf die Welt zu schauen. Eine friedliche Erde ist in weite Ferne gerückt, viele glauben, es wird alles noch schlimmer kommen.
Panzerungen aufbrechen
Auch die Zeitumstellung vor einer Woche hat den Berliner Alltag düsterer gemacht: Die Dunkelheit legt sich nun noch früher aufs Gemüt und erschwert es zusätzlich, Lichtblicke zu entdecken. Wir hasten aneinander vorbei, die Schultern hochgezogen, auf den Ohren Kopfhörer, den Blick nach innen.
Wir ändern nichts an der Weltenlage, wenn wir wie erloschene Lichter durch die Stadt gehen.
Tagesspiegel-Autorin Claudia Seiring
Wieso also Lächeln? Weil wir es sonst einfach nicht aushalten. Weil der Panzer, den wir mürrisch und beladen um uns errichten, nur immer dicker und fester und unser Kontakt zueinander immer distanzierter wird.
Wir ändern nichts an der Weltenlage, wenn wir wie erloschene Lichter durch die Stadt gehen. Ein jüdisches Sprichwort sagt: „Was die Seife für den Körper, das ist das Lachen für die Seele.“
Und auch die Psychologie bestätigt den zeitlosen Poesiealbums- oder Freundschaftsbücher-Spruch „Das Lächeln, das du aussendest, kehrt zu dir zurück.“ US-Forscher veröffentlichten 2019 eine Studie, für die sie weltweit zahlreiche Untersuchungen ausgewertet hatten. Ihre Erkenntnis: Die „Facial-Feedback-Hypothese“ stimmt, Lächeln macht uns tatsächlich glücklicher.
Unser wichtigstes freundliches Signal ist das Lächeln.
Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Verhaltensforscher
Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt über das Lächeln als Mittel zum Zweck geschrieben. Fremdheitserfahrungen würden abgemildert und, so Eibl-Eibesfeldt: „Unser wichtigstes freundliches Signal ist das Lächeln. Mit dieser angeborenen Verhaltensweise sind wir in der Lage, uns mit völlig Unbekannten anzufreunden. Ein Lächeln entwaffnet.“
Ich möchte hier für einen Selbstversuch plädieren, der im besten Fall zu einer Art Perpetuum mobile der positiven Emotionen werden könnte. Fremde Menschen einfach mal anlächeln. Zum einen wirkt das entspannend in uns selbst, zum anderen können wir mit etwas Übung eine Kettenreaktion in Gang setzen. Meine nicht-repräsentative Feldforschung hat ergeben, dass mindestens jeder dritte Angelächelte zurücklächelt. Es braucht weder Akku noch Ladegerät und auch keinen Strom – wir tragen alle Zutaten in uns.
Wer es ausprobieren möchte, sollte niedrigschwellig beginnen. Kinder und Hunde sind gute „Transmitter“. Eltern wie Hundebesitzer reagieren meist auf freundliche Blicke, die dem Nachwuchs oder dem Vierbeiner gelten. Diese können übrigens auch lächeln, wenn sie zur Rasse der Dalmatiner oder Windhunde zählen. Sie nutzen diese Fähigkeit in Begrüßungssituationen. Spannend, dass sich Hunde untereinander nicht anlächeln, ihre Geste gilt allein dem Menschen, von uns haben sie diese Mimik übernommen.
Anlächeln im Selbstversuch
Ältere Menschen sind Probanden für den nächsten Schritt auf der Leiter des Lächelns. Nach meiner Erfahrung tauschen sie eher einen freundlichen Blick als coole Teenager mit hippen technischen Geräten – Ausnahmen willkommen. Männer sind lach-technisch prinzipiell schwerer zu knacken, als Frauen, Überraschungen inbegriffen. Wie natürlich grundsätzlich gilt: einfach mal ausprobieren.
Es ist ein Selbstversuch, fremde Menschen anzulächeln, die mir auf dem Weg zur Arbeit, im Supermarkt, in der S-Bahn oder beim Spazierengehen begegnen. Ich führe ihn schon seit Jahren durch, an Tagen, an denen ich mich bei mir fühle, Lust habe, anderen Menschen in die Augen zu sehen und auch zu riskieren, eine Abfuhr, einen fragenden Blick oder gar einen garstigen Kommentar zu erhalten.
Fühle ich mich besonders stark, traue ich mich, auch Menschen anzulächeln, die sehr abweisend wirken. Oder mir äußerlich fremd sind. Es ist wie ein Spiel: Werde ich gewinnen? Gewonnen habe ich, wenn ich ein Lächeln geschenkt bekomme.
Ich weiß, viele Berliner:innen haben nichts zu lachen. Sie sind obdachlos, angesichts steigender Mieten und Preise verzweifelt, krank, in Altersarmut oder des Lebens einfach müde.
Um schon mal allen Kommentaren vorzubeugen, die mir Naivität und Oberflächlichkeit unterstellen: Vergesst es. Ich bin nicht naiv, sondern setze darauf, dass wir in einer Millionenstadt wie Berlin mit Millionen diverser Schicksale und Persönlichkeiten nur eine Chance auf friedliches Miteinander haben, wenn wir einander freundlich begegnen. Der kleinste gemeinsame Nenner der Freundlichkeit ist das Lächeln. Nutzen wir es.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de