Kampf gegen Machtmissbrauch: Wo die deutsche Wissenschaft aufholen muss

0 37

Kampf gegen Machtmissbrauch: Wo die deutsche Wissenschaft aufholen muss

© dpa/Uwe Zucchi Kampf gegen Machtmissbrauch: Wo die deutsche Wissenschaft aufholen muss

Prekäre Arbeitsbedingungen, Machtmissbrauch und Spießrutenlauf im Drittmittelsystem: Das akademische System sabotiert sich selbst. Es ist höchste Zeit, gegenzusteuern.

Ein Gastbeitrag von

  • Lutz Böhm
  • Michael Gerloff

Es ist wieder Nobelpreissaison und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Menschen, die ihr Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt haben. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich jedoch mitunter Schicksale, die nichts mit dem Ideal der freien Wissenschaft gemein haben.

Kampf gegen Machtmissbrauch: Wo die deutsche Wissenschaft aufholen muss

Lutz Böhm ist Postdoktorand am Fachgebiet Verfahrenstechnik der Technischen Universität Berlin und setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft ein.

Kampf gegen Machtmissbrauch: Wo die deutsche Wissenschaft aufholen muss

Michael Gerloff promoviert am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik und engagierte sich schon als Student der Biochemie für eine grundlegende Reform der akademischen Wissenschaft. #IchBinHanna

Dieses Jahr erhielt Katalin Karikó zusammen mit Drew Weissman den Medizinnobelpreis für ihre Entdeckung, die zur Entwicklung der mRNA-Impfstoffe führte. Dass sie einmal die höchste wissenschaftliche Auszeichnung erhalten würde, schien zunächst undenkbar. Als Frau, Arbeiterkind, Mutter sowie Migrantin ist sie mehrfach marginalisiert und wird im Wissenschaftssystem statistisch nachweisbar benachteiligt.

Ungeschriebene Regeln

Wissenschaftler:innen aus einem nicht-akademischen Familienumfeld und mit Migrationsgeschichte haben es schwer, die ungeschriebenen Regeln und Codes des Wissenschaftssystems zu deuten. Karikó emigrierte in die USA und spürte dies schnell, als sie eine Stelle an einer anderen Universität angeboten bekam.

Ihr Vorgesetzter sorgte nicht nur durch eine Rufmordkampagne dafür, dass sie diesen Job nicht antreten konnte, sondern drohte ihr sogar damit, sie aus den USA abschieben zu lassen. Karikó gelang es an einer anderen Universität, der University of Pennsylvania, das mRNA-Molekül impfstofftauglich zu machen.

In Deutschland berichten vor allem marginalisierte Wissenschaftler:innen unter den Hashtags #IchBinReyhan und #IchBinTina von Machtmissbrauch und Einschüchterungsversuchen ihrer Kolleg:innen und Vorgesetzten. Nicht-EU-Ausländer sind erpressbar: Bei Kündigung oder Nichtverlängerung des Vertrags geht die Aufenthaltserlaubnis verloren.

Darüber hinaus werden immer wieder extreme Fälle des Machtmissbrauchs bekannt, wie der Göttinger Professor, der seine Doktorandin mit einem Bambusstock gezüchtigt haben soll. Inzwischen thematisieren diese Missstände nicht nur Verbände wie das Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft, sondern auch zahlreiche Professor:innen und die Hochschulpräsidentin Geraldine Rauch. 

Günstlingssysteme an den Unis

Karikós Weg zeigt zudem auf, welchen extremen Einfluss der Wettbewerb um Drittmittel auf eine akademische Karriere hat. Dieses Geld aus externen Quellen bezahlt Messgeräte und Gehälter, fungiert aber faktisch als Maß für die Relevanz der Forschung. Karikó warb mit ihrem Außenseiterthema mRNA wenig Mittel ein.

Schon in den Neunzigern wurde ihr geraten, das Thema fallenzulassen. Als sie sich weigerte, wurde ihre Stelle heruntergestuft und ihr die Aussicht auf eine Professur genommen. Die Anzahl der veröffentlichten Artikel und die Summe der eingeworbenen Drittmittel – also quantitative Größen – dienen als Entscheidungsbasis für die Besetzungen von Professuren. 

Nur durch Zufall lernte Karikó Drew Weissman kennen, der ihr Talent erkannte und ihre Experimente finanzierte. Da es für die unkonventionellen Ideen der Wissenschaftlerin keine Unterstützung seitens der Universität gab, wählte sie unter dem Hohn der Kolleg:innen den Gang in die Industrie, zum Biotech-Startup BioNTech. Während die Hochschule Innovation verhinderte, förderte BioNTech dieses Potenzial.

Das Einwerben von Drittmitteln ist auch in Deutschland für eine Berufsperspektive in der Wissenschaft unverzichtbar. Im Kampf um die raren Stellen haben diejenigen den entscheidenden Vorteil, die bereits Drittmittel eingeworben haben. Dabei ergibt sich eine Reihe von Problemen.

So ist für die Einwerbung der Drittmittel in aller Regel die Einwilligung und Unterstützung der Arbeitsgruppenleiter, des Lehrstuhls oder der Fakultät nötig. Nicht selten werden Günstlinge vor Ort bestimmt, die Drittmittel einwerben dürfen, was in manchen Fällen „Dynastien“ festigt.  

Reformen wären möglich

Drittmittel sind naturgemäß projektgebunden und zeitlich befristet, daher lassen sich langfristige Forschungsvorhaben mit ihnen nicht umsetzen. Im Schnitt liegt die Vertragslänge bei ein- bis eineinhalb Jahren, oft auch nur bei wenigen Monaten. Dabei gibt es bereits Konzepte, die eine unbefristete Anstellung auf Drittmitteln ermöglichen würden. Die Volkswagenstiftung hat dieses Problem erkannt und knüpft zukünftig die Vergabe der Drittmittel an gute und nachhaltige Arbeitsbedingungen. Auch bei der Auswahl der zu fördernden Themen zeigt sie Reformwillen.

Die größte deutsche Institution für die Drittmittelvergabe, die öffentlich finanzierte Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), sollte sich ein Beispiel daran nehmen. Machtmissbrauch und Drittmittelwesen sind neben vielen weiteren Problemfeldern die drängendsten Baustellen der Wissenschaft. International wirken Drittmittelgeber dem Machtmissbrauch durch Sanktionen entgegen. In Deutschland muss das nachgeholt werden. 

Dass die prekären Arbeitsbedingungen unterhalb der Professur die beschriebenen Probleme begünstigen, wird heute nicht mehr bestritten. Eine Möglichkeit diese in den Griff zu bekommen ist die Reform des Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft (Wissenschaftszeitvertragsgesetz, WissZeitVG). Dieses erlaubt bisher die befristete Beschäftigung in der Wissenschaft für insgesamt zwölf Jahre, jeweils sechs Jahre vor und nach der Promotion. Wer nach Ablauf dieser Frist noch keine Professur innehat, scheidet aus.

Der Entwurf zur Novellierung des WissZeitVG, der einen Alleingang des FDP-geführten Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) darstellt, läuft auf eine maximale Befristung sechs Jahre vor und vier Jahre nach der Promotion hinaus. Für Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen werden damit keine Anreize geschaffen, Wissenschaftler:innen ohne Professur zu entfristen. Gegen den Vorschlag des BMBF protestieren deswegen die betroffenen Gruppen und Gewerkschaften mit einer Petition.

Eine Reform des WissZeitVG kann zu weniger prekären Arbeitsbedingungen führen. Hängt das Überleben im akademischen System seltener davon ab, einen Ruf auf die knappen Lebenszeitprofessuren zu erhalten, müssen Drittmittel nicht mehr priorisiert und Machtmissbrauch nicht klaglos hingenommen werden. 

Karikós Schicksal zeigt schmerzhaft auf, wie das Wissenschaftssystem weltweit durch Diskriminierung, Machtmissbrauch und Drittmittelwesen seit Jahrzehnten Innovationen nicht hervorbringt, sondern verhindert. Für eine umfassende Wissenschaftsreform braucht es dauerhaft angelegte Karrieremöglichkeiten neben der Professur. Die Reform des WissZeitVG muss eine Grundlage dafür schaffen.

Mitgearbeitet am Text hat eine Autorin, die als Postdoc in der Molekularbiologie an einer Uni in Deutschland forscht. Sie möchte anonym bleiben, um einer möglichen Karriereschädigung zu entgehen.

Zur Startseite

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.