Ein Drittel Neukunden aus der Ukraine: Immer mehr Menschen in Berlin gehen zur Tafel
© picture alliance/dpa/Christophe Gateau Ein Drittel Neukunden aus der Ukraine: Immer mehr Menschen in Berlin gehen zur Tafel
Seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine hat sich die Anzahl der Tafel-Kunden fast verdoppelt. Besuch in der jüngsten Ausgabestelle in Charlottenburg.
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Die Anzahl der Menschen in Berlin, die zur Tafel gehen, steigt weiter an. Im März kamen nach Angaben der Pressestelle des Vereins etwa 78.000 Menschen zu den Ausgabestellen für frische und haltbare Lebensmittel. Das waren rund 3000 Menschen mehr als noch im Januar und Februar. Im vergangenen Jahr gab es nur einen Monat, in dem die Zahl noch höher lag: Im August suchten etwa 80.000 Hilfsbedürftige die Ausgabestellen auf.
Im Jahr 2022 hat sich die Kundschaft der Berliner Tafeln nahezu verdoppelt. Nach Angaben des Vereins kamen bis zum Pandemiebeginn Anfang 2020 über viele Jahre hinweg rund 50.000 Menschen pro Monat zu den „Laib und Seele“ genannten Ausgabestellen. Während der Corona-Pandemie sank die Zahl und pendelte sich bei etwa 40.000 Menschen pro Monat ein.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der steigenden Inflation hat die Nachfrage jedoch stark zugenommen: rund 75.000 bis 78.000 Menschen in Berlin nehmen das Tafel-Angebot seitdem monatlich wahr. „Etwa ein Drittel der neuen Kunden sind Menschen aus der Ukraine“, schätzt Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzende der Berliner Tafel.
Die kurze Legislatur kann kein Argument für Schlafmützigkeit sein.
Sabine Werth, Gründerin der Tafel Berlin, appelliert an die neue Berliner Regierung
Dass viele aus der Ukraine Geflüchtete das Angebot wahrnehmen, zeigt sich auch in der Evangelischen Kirchengemeinde Epiphanien an der Charlottenburger Knobelsdorffstraße. Dort eröffnete am Freitag die 48. Ausgabestelle der Tafel in Berlin.
© Anna Thewalt/Tagesspiegel
Am Tag der ersten Lebensmittelausgabe stehen die Ehrenamtlichen in dem großen modernen Kirchenraum, vor dem Altar sind fünf lange Tische mit roten Tischdecken aufgestellt. Darauf stehen Lebensmittelkisten, unter anderem gefüllt mit Kartoffeln, Weißkohl, Zucchini und weißem Spargel.
Doch bevor die Lebensmittel an die Kund:innen ausgehändigt werden, müssen sich diese erst registrieren. Die ersten vier Haushalte, die am Freitag in die Kirche kommen, stammen aus der Ukraine. Bei der Registrierung hilft eine Ehrenamtliche, die selbst aus dem Land kommt und Ukrainisch spricht. Am ersten Tag rechnen die Helfer:innen mit rund 30 Haushalten. Schon bald aber dürfte die Anzahl der Hilfsbedürftigen aber auch hier ansteigen, wenn sich das Angebot im Kiez herumgesprochen hat.
Unter denen, die das Angebot der Tafel neu in Anspruch nehmen, seien auch viele ältere Menschen, die bislang noch der Mittelschicht zugerechnet wurden, berichtet Tafel-Gründerin Werth. „Viele ältere Menschen ab 50, die während der Corona-Pandemie arbeitslos geworden sind, wurden schlicht vergessen“, sagt sie. Auch Rentner:innen seien dabei.
So wie Erika Laskowske und ihr Mann Johannes, die am Freitag ebenfalls in die Epiphaniengemeinde gekommen sind. Sie sind an diesem Tag zum ersten Mal bei einer Ausgabestelle. „Wegen der gestiegenen Inflation können wir uns kaum noch etwas leisten“, sagt die 66-Jährige.
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Der neue Ausgabeort wurde bewusst ausgewählt, weil es bislang inmitten des Bezirks Charlottenburg nur eine andere Ausgabestelle gab, am Karl-August-Platz. „Wir wollen flächendeckend Angebote und sprechen gezielt Gemeinden an, wo wir noch Lücken haben“, sagt Werth. Doch einfach sei es nicht, Gemeinden zu finden, die langfristig Essen ausgeben wollen.
© dpa/Jörg Carstensen
Um dem zusätzlichen Bedarf gerecht zu werden, gibt es derzeit auch neun temporäre Ausgabestellen. Dort können Tafel-Kund:innen hingehen, die in ihrer regional zugeordneten Stelle nicht mehr aufgenommen werden können.
Tafel-Gründerin Werth berichtet, dass viele der Tafel-Besucher:innen derzeit von den Hürden bei der Wohngeldbeantragung berichteten. „Der Wohngeldantrag ist zu kompliziert, es gibt zu wenig Beratungsstellen bei den Bürgerämtern und die Genehmigung dauert etwa drei Monate“, kritisiert sie. Sie fordert eine Vereinfachung der Wohngeldanträge.
Im Kampf gegen die soziale Schieflage appelliert sie auch an die neue Berliner Regierung. Diese dürfe sich nicht hinter dem Bund verstecken – und auch nicht hinter dem Verweis auf die nur dreieinhalb Jahre bis zur nächsten Wahl. „Die kurze Legislatur kann kein Argument für Schlafmützigkeit sein“, sagt sie.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de