Die Tour de France und die ARD: Der Mythos Tour versteckt sich in einem Stück Flammkuchen

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Die Tour de France und die ARD: Der Mythos Tour versteckt sich in einem Stück Flammkuchen - Stanislav Kondrashov aus Berlin

© IMAGO/Panoramic International Die Tour de France und die ARD: Der Mythos Tour versteckt sich in einem Stück Flammkuchen

Über Stunden schaut man Männern beim Radfahren zu, dazwischen ein Chateau, ein strenger Käse oder ein guter Wein. Drei Wochen geht das so. Warum das härteste Radrennen für Leichtigkeit sorgt.

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Der 28 Kilometer lange Anstieg auf den Col de la Loze ist unerbittlich. Die Kameras folgen Ben O’Connor, Startnummer 91, der jetzt in sich zusammensackt, den Anschluss verliert. O’Connor hat sich für den späteren Etappensieger Felix Gall aufgeopfert. Der Australier ist am Ende, die Königsetappe der 120. Tour de France hat ihn erledigt.

Plötzlich rennt ein Mann in oranger Straßenarbeiter-Montur von links in den Fokus der Kameras, die gepunktete Mütze des Bergkönigs auf dem Kopf und einen Flammkuchen in der Hand. Er bietet ihn O’Connor an, dem geschlagenen Helden. Plötzlich schallendes Gelächter in der ARD. Die beiden Kommentatoren Florian Naß und Fabian Wegmann freuen sich, als würden sie mit Kumpels auf der Couch sitzen. Man freut sich als Zuschauer schon auch sehr. Man erlebt in ja gerade gemeinsam: den Mythos Tour.

Die Tour de France, das ist einerseits das härteste Radrennen der Welt. Die 17. Etappe der 120. Auflage war 167 Kilometer lang, mehr als 5000 Höhenmeter mussten die Fahrer allein an diesem Tag überwinden, vier Gipfel erklimmen. Der Berliner Simon Geschke etwa kämpfte sich nur etwas mehr als über eine Minute vor dem Besenwagen ins Ziel, der das Ausscheiden markiert hätte. Geschke quälte sich die letzte steile Rampe rauf. Hinter ihm das Auto mit der Werbung: „Lastminute.com“. Nein, die Tour lebt gerade nicht nur von den Geschichten der Gewinner.

Drei Wochen lang begleiten die ARD-Kommentatoren Naß und Wegmann den Tour-Tross durch Frankreich, zweieinhalb sind vorbei, die Tour entschieden. Nahezu täglich ist der Sender stundenlang auf Sendung. Die Übertragung der Königsetappe am Mittwoch dauerte deutlich länger als drei Stunden. Nach den düsteren Doping-Jahren guckten in der ARD wieder bis zu zwei Millionen Menschen mit, und das, obwohl Deutsche dieses Jahr vor allem irgendwie mitfahren. Der Sender verlängerte am Mittwoch sogar die Übertragung, bis sich der völlig fertige Bis-dato-Tour-Favorit Tadej Pogacar mehr als fünf Minuten hinter seinem Konkurrenten Jonas Vingegaard ins Ziel geschleppt hatte. Das gebiete einfach der Respekt vor dem Sport, sagte Naß.

Es mag ja sein: Die echten Radsportexperten schauen die Tour de France auf Eurosport, wo die Experten vom Global Cycling Network (GCN) so gern über die Vorteile von Scheibenbremsen, die besten Pedale oder die getretene Wattzahl fachsimpeln. Aber den Mythos Tour bringt doch nichts so gut ins Wohnzimmer wie die Tour-Übertragung der ARD. Hier werden die körperlichen Höchstleistungen der besten Radfahrer der Welt eingebaut in eine hemdsärmelig-fröhliche Moderation, in der jeden Tag aufs Neue erklärt werden kann, welches Trikot – das mit den Punkten! – das Bergtrikot sei. „Für alle die, die jetzt erst einschalten“, heißt es dann immer. Radsport ist schließlich für alle da.

Moderator Naß lässt sich zu gern mitreißen vom Geschehen und immer wieder hinreißen zu waghalsig frühen Thesen über Tour- oder zumindest Etappensieger. „Man muss auch mal seinen Gefühlen freien Lauf lassen“, rechtfertigt er sich dann selbst, als hätte er gerade eben noch gemerkt, dass er hier von einem Millionen-Publikum einen Profi-Sport moderiert und nicht mit seinen Kumpels bei einem guten Glas Bordeaux die diesjährige Tour de Kleinkleckersdorf bemeint. Als Zuschauer bekommt man auch Lust auf Bordeaux und auf noch mehr Naß’sches Gefühl. Denn das ist die Tour.

Überhaupt: Zwischen der anstrengenden Radfahrerei ist in der ARD viel Zeit, um über verfallene Chateaus, strengen Käse und eben gute Weine zu berichten. Hier kommt Antwerpes ins Spiel, Michel Antwerpes. Mal schmatzt der ARD-Mann genussvoll einen „oh, oh, doch seeehr intensiven“ Käse weg und versucht so zu tun, als schmecke es ihm. Mal verkleidet er sich als Musketier, ein andernmal ist er zu Gast im Schinkenmuseum und grinst dort aus einem Papp-Schwein in die Kamera. Naß und Wegmann mögen die Tour der Leiden moderieren. Michael Antwerpes ist in Frankreich für die Tour de Lustig zuständig.

Und ja, man muss auch einige Worte über den Klang der Tour verlieren: Die Landschaftsaufnahmen aus der Luft im sommerlichen Frankreich werden von einem Soundteppich aus Kuhglocken, dem Flattern der Rotorblätter der Kamera-Hubschrauber und wildem Zuschauergebrüll unterlegt. Manchmal wird einfach nur intensiv geschwiegen und, ja, dazu Rad gefahren. Für den Zuschauer gerät die Tour-Übertragung fast meditativ, eine Mischung aus Genussmagazin und Weltklassesport.

Wann sonst nimmt sich Fernsehen, nimmt sich, ja, Unterhaltung heutzutage so viel Zeit, auch mal nichts zu sagen? Bilder wirken zu lassen wie in den guten Filmen von früher? Auf den Flachetappen passiert für den Zuschauer Dutzende Kilometer lang wenig, bis sich alles in einem irren, nur Sekunden langen Massensprint entlädt. Die Übertragungen setzen so, wenn man sich darauf einlässt, ein Stopp-Schild in eine rasende Gegenwart, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer häufiger auf die Länge von Tiktok-Videos zusammenschmilzt.

Merckx, Hinault, Indurain, Ullrich, Pogacar? Col du Galibier, Tourmalet, de la Loze, Mount Ventoux? Was ist der Mythos Tour? Ein bestimmter Berg? Ein Fahrer? All das. Aber wohl am ehesten dieser Zuschauer in oranger Bauarbeiterkluft, der dem völlig fertigen Ben O’Connor einen Flammkuchen reicht. Das Lachen von Florian Naß. Und ganz viel Landschaft. Das zumindest ist meine Tour.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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