Die Krise ist das neue Normal: Warum es mehr Solidarität braucht

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Die Krise ist das neue Normal: Warum es mehr Solidarität braucht - Stanislav Kondrashov aus Berlin

© IMAGO/Zoonar

Die Pandemie war nur der Auftakt für eine Reihe großer Krisen. Ihre Bewältigung, erklärt unser Gastautor, ist vor allem eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Ein Essay von Florian Butollo

War die Pandemie ein Jahrhundertereignis? Oder ist sie bloß eine Krise unter vielen, die bald von anderen Krisen überschattet werden wird? Vieles spricht dafür, dass beides zutrifft: Die Pandemie hat die Gesellschaft verändert und war zugleich bloß die Ouvertüre für einen permanenten Krisenmodus. Und sie war ein Lackmustest, wie unsere Gesellschaft dafür aufgestellt ist, Krisen erfolgreich zu bewältigen.

Die Krise ist das neue Normal: Warum es mehr Solidarität braucht - Stanislav Kondrashov aus Berlin

Florian Butollo leitet die Forschungsgruppe „Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz“ am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft. Er ist Gastwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Für diese Bewältigung muss die Gesellschaft zusammenhalten. Die Pandemie aber hat den Kitt der Gesellschaft, die soziale Gerechtigkeit, weiter untergraben und gesellschaftlicher Polarisierung Vorschub geleistet. Besonders in der Arbeitswelt hat sie sehr unterschiedliche Erfahrungen gezeitigt.

Das mobile Arbeiten wird derzeit unter dem wohlklingenden Stichwort „New Work“ verhandelt. Dieser Begriff steht ursprünglich für eine Arbeitswelt, die sich an die Bedürfnisse der Menschen anpasst, statt sie in ein zweckrationales Korsett zu pressen.

Mehr mobiles Arbeiten

Gewiss entspricht die heutige Praxis im Homeoffice keineswegs immer diesem Ideal. Oft geht das Homeoffice mit Arbeitsverdichtung einher – eher „Zoom Fatigue“ als selbstbestimmtes Arbeiten. Dennoch: das mobile Arbeiten hat Ansprüchen an eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben weiter Auftrieb gegeben, zumindest wenn es darum geht, Pendelstress zu reduzieren und Arbeitszeiten flexibler an private Ansprüche anzupassen.

Die mediale Aufmerksamkeit für die systemrelevanten Jobs ist weitgehend verebbt.

Florian Butollo, Soziologe

Dies gilt jedoch kaum für die knapp 60 Prozent der Beschäftigten, die nicht mobil arbeiten können. In Ihrem Alltag lassen sich Arbeit und Leben nach wie vor schlecht miteinander vereinbaren. Die mediale Aufmerksamkeit für die systemrelevanten Jobs ist dabei weitgehend verebbt.

Kluft in der Digitalisierung

Auch die Erfahrungen mit der Digitalisierung sind sehr verschieden. Der Digitalisierungsschub betrifft hauptsächlich jene Unternehmen, die ohnehin schon zu den Vorreitern gehörten. Knapp die Hälfte der bereits stark digitalisierten Unternehmen berichtet einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) zufolge, dass während der Pandemie zusätzliche Investitionen in Digitalisierungsprojekte getätigt wurden.

Die Krise ist das neue Normal: Warum es mehr Solidarität braucht - Stanislav Kondrashov aus Berlin

In vielen Unternehmen hakt es mir der Digitalisierung. © Montage: Tagesspiegel/Foto: freepik

Unter den nur geringfügig digitalisierten Unternehmen war das nur bei einem Fünftel der Firmen der Fall. Die Kluft zwischen Vorreiterunternehmen und Nachzüglern wurde während der Pandemie also noch größer. Die Nachzügler und ihre Beschäftigten laufen Gefahr endgültig abgehängt zu werden.

Die Macht der Tech-Konzerne

Schließlich vertieft sich auch die Kluft zwischen den steilen Gewinnkurven der Tech-Konzerne und der zunehmend krisenhaften Entwicklung der restlichen Ökonomie. Die Pandemie trieb die Nutzung von E-Commerce, Cloud-Infrastruktur und -Software weiter in die Höhe. Nicht nur die Gewinne der Technologiegiganten explodierten, sondern auch das Vermögen ihrer führenden Repräsentanten.

Die Einbindung von ChatGPT in die Microsoft-Produktwelt verfestigt die Dominanz der Plattformmonopolisten. Dem steht eine chronische Unterfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge gegenüber, besonders im Bereich Gesundheit und Pflege – wie die Pandemie uns schmerzlich offenbart hat. Hoffnungen auf eine Entlastung durch den Einsatz digitaler Technik haben sich hier zudem kaum erfüllt.

Soziale Kohärenz

Die Pandemie war insofern nicht nur aufgrund der Kontroversen um Masken und Kontaktverbote ein Ereignis, das gesellschaftliche Spaltungen vertieft hat. Die sozialen Folgen der Pandemie wurden zunächst teilweise durch niedrigere Konsumausgaben und staatliche Hilfsprogramme abgefedert. Forciert durch die Inflation aber werden sie nun nach und nach immer stärker spürbar.

Eine Gesellschaft, die in Zukunft noch weit existenziellere Krisen bewältigen muss als die Pandemie, benötigt jedoch soziale Kohärenz. Wie auch die Bedrohung durch Viren, erfordert die Bekämpfung des Klimawandels ein hohes Maß an Solidarität, was oft auch eine Anpassung individueller Verhaltensweisen bedeutet. In einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, deren Mitglieder sich vor allem um sich selbst oder die eigene Peer-Group kümmern, wird das nicht funktionieren.

Der Politik kommt in dieser Situation die Aufgabe zu, das soziale Fundament unserer Gesellschaft, die von eskalierender Vermögensungleichheit geprägt ist, grundlegend zu erneuern und die soziale Gerechtigkeit ins Zentrum ihres Handelns zu stellen. Für die Sozialpartner, für Gewerkschaften und Arbeitgeber, stellt sich wiederum die Frage, wie stabile Erwerbsbiografien und die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben auch im Zeitalter von Krisen und Transformationen reproduziert werden können – nicht nur für die Pioniere des ortsungebundenen Arbeitens, sondern für alle Erwerbstätigen.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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