Das „Alice im Wunderland“-Syndrom: Sich groß oder klein zu fühlen, ist Kopfsache
© imago images/Everett Collection
Das „Alice im Wunderland“-Syndrom: Sich groß oder klein zu fühlen, ist Kopfsache
Eben noch so klein wie eine Maus, dann plötzlich riesenhaft groß – was Alice im Wunderland erlebt, berichten auch Migräne-Patienten mitunter. Und gewähren damit einen Blick in die Funktionsweise des Gehirns.
Kürzlich äußerten kleinliche Teile der Familie Zweifel an meiner Körpergröße: Zwar sind 1,78 Meter im Pass vermerkt. Aktuelle Überprüfungen haben aber ergeben, dass die im jugendlichen Alter durchgeführte, immerhin amtliche Messung vielleicht doch etwas optimistisch ausgefallen war.
Na und? Die Realität und das Bild, das sich das Gehirn davon macht, sind sowieso zwei verschiedene paar Dinge. Das zeigen Untersuchungen von Menschen, die sich in bestimmten Situationen plötzlich als riesig wahrnehmen, Tische, Stühle, Menschen scheinen vor ihren Augen auf Zwergengröße zu schrumpfen. Oder sie selbst sind winzig und die Umwelt riesenhaft.
1955 benannte der britische Psychiater John Todd das Phänomen, das vor allem im Zusammenhang mit Migräneanfällen, Hirninfektionen oder epileptischen Anfällen auftritt, nach dem berühmten Roman „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll (dem Pseudonym des Mathematikers Charles Dogson). Darin lässt der Schriftsteller seine Hauptfigur mal schrumpfen, mal wird sie so groß, dass sie kaum noch ins Zimmer passt. Unklar ist, ob Carroll, der bekanntermaßen zahlreiche Migräneanfälle hatte, womöglich selbst an dem Syndrom litt und so zu dem Roman inspiriert wurde.
Wie dem auch sei, Auslöser für die Fehlwahrnehmung der eigenen und der Größe von Objekten in der Umwelt sind Läsionen oder Fehlfunktionien in zwei Hirnregionen: im extrastriären Körperareal, das sich ein Bild vom Körper macht, und einem Teil des Parietallappens (Lobus parietalis inferior), der die Größe von Objekten einschätzt. Das legen aktuelle Analysen des Neurologen Maximilian Friedrich am Brigham and Women’s Hospital in Boston von Hirnaufnahmen von 37 Patienten mit „Alice im Wunderland“-Syndrom nahe.
Die Fehlwahrnehmungen, meist bei Kindern und Jugendlichen, dauern in der Regel nur wenige Minuten an. Mitunter erscheint auch die Zeit beschleunigt oder verlangsamt und Entfernungen werden unter- oder überschätzt. Danach ist wieder alles „normal“. Eine Therapie gibt es nicht, meist verschwindet das Phänomen von selbst wieder. Eine familiäre Häufung deutet darauf hin, dass auch Gene involviert sind. Aber welche es sind, die das Gehirn befähigen, den Körper und seine Umwelt „richtig“ wahrzunehmen, ist unklar.
Um zum familiären Zweifel an meiner Größe zurückzukommen: Wir sind also so groß, so klein, so rund und so schlank, wie unser Gehirn es uns glauben macht. Amtliche oder sonstige Messungen hin oder her.
Was wir zum Leben mitbekommen und was wir weitergeben – jedes Wochenende Geschichten rund um Gene und mehr in der „Erbonkel“-Kolumne.
Zur Startseite
- Der Erbonkel
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de