Auflehnen gegen die Ohnmacht: Der jüdische Widerstand im Holocaust
© picture-alliance / dpa Auflehnen gegen die Ohnmacht: Der jüdische Widerstand im Holocaust
Vor 80 Jahren wehrten sich Juden in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor erfolgreich gegen ihre Ermordung. Sie waren Zeugen unfassbarer Gräueltaten geworden, ohne eingreifen zu können. Sie handelten aus Verzweiflung, der Aufstand wurde aber auch vom Wunsch nach Rache angetrieben.
Von Konstantin Sakkas
Wie die Lämmer zur Schlachtbank, so seien die Juden zu ihrer Ermordung gegangen, das war lange Zeit das gängige Narrativ. Mittlerweile weiß man, dass es nicht stimmt. Und so darf es als Meilenstein gelten, dass bei der diesjährigen Feierstunde der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zum Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944 in Berlin der jüdische Widerstand gewürdigt wurde. In seinem Festvortrag in der St.-Matthäus-Kirche rückte der Historiker Stephan Lehnstaedt die Aufstände der „Arbeitsjuden“ in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor 1943 in eine Reihe mit dem deutschen und europäischen Widerstand gegen Hitler.
Der Opferbegriff war zunächst aktiv gemeint. Sie galten als Helden, die sich geopfert haben. Dieser Begriff wurde in einen passiven umgeschmolzen. Plötzlich sind das alle passive Opfer.
Reinhart Koselleck, Historiker
Lehnstaedt verwies darauf, dass im jüdischen Widerstand zwei konträre Opferbegriffe zusammenfallen: das aktive, heroische (sacrificium) und das passive, dargebrachte (victima) Opfer. Das bedeutet einen Bruch mit dem Paradigmenwechsel, den der Opferbegriff in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg durchlaufen hat und den der Historiker Reinhart Koselleck so beschrieb: „Die Opfersemantik hat sich in den Fünfzigern leise verschoben. Der Opferbegriff war zunächst aktiv gemeint. Die Inschriften für Opfer des Krieges waren Hinweise darauf, dass sie Helden seien: Sie haben sich geopfert. Dieser Begriff wurde unter der Hand in einen passiven umgeschmolzen (…) Plötzlich sind das alle passive Opfer.“
Rauch steigt während des Aufstands in Treblinka 1943 über dem Konzentrationslager auf. © mauritius images / UtCon Collection / Alamy / Alamy Stock Photos
Die sich wehrenden Juden waren beides: geschundene Opfer und Helden in Aktion. Sie wollten überleben, aber sie wollten auch ihren Peinigern Schaden zufügen und deren Mordsystem sabotieren. Zudem wurden sie von den Tätern zur Zuarbeit gezwungen, wobei Behauptungen wie die von Hannah Arendt, die wichtigsten Schritte im Mordprozess von den „Judenräten“ in den Ghettos bis zu den „Sonderkommandos“ in den Gaskammern seien an die Juden selbst delegiert worden, von der Forschung längst widerlegt sind – die Quellen sprachen schon immer eine andere Sprache.
All diese Faktoren mögen ein Gedenken an die Überlebenden der Vernichtungslager noch heute erschweren, wobei dieses Nicht-Gedenken vor allem ein deutsches Phänomen ist. Bereits 1987 erschien der unter anderem mit Rutger Hauer besetzte britische TV-Film „Flucht aus Sobibor“, 2018 beschäftigte sich der russische Regisseur Konstantin Chabensky mit „Sobibor“ mit dem Thema, und die Revolte des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau vom 7. Oktober 1944 ist Thema der Filme „Die Grauzone“ (2001) und „Son of Saul“ (2016). Der wichtigste Faktor wird sein, dass die „Aktion Reinhardt“ noch wenig im Allgemeinwissen verankert ist, auch wenn sich dies allmählich ändert.
Sadismus und unzweckmäßige Gewalt
Zwischen Frühjahr 1942 und Herbst 1943 wurden in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibor und Treblinka insgesamt 1,5 bis zwei Millionen Juden vorwiegend durch Motorenabgase ermordet. Sadismus und unzweckmäßige Gewalt spielen hierbei, wie die Historikerin Sara Berger in ihrer einschlägigen Dissertation „Experten der Vernichtung“ betont, entgegen der Phrase vom „industriellen Massenmord“ eine große Rolle. Die Opfer kamen vor allem aus den im „Generalgouvernement“ seit 1939 von den Deutschen errichteten Ghettos sowie aus dem nicht-sowjetischen Osteuropa; aber auch Juden aus West- und Südeuropa sowie dem Reichsgebiet, für die eigentlich Auschwitz-Birkenau „zuständig“ war, wurden (vor allem 1943) in die „Reinhardt“-Lager verschleppt.
Nach Vorüberlegungen seit Ende 1941, möglicherweise auch einem mündlichen „Führerbefehl“ zur vollständigen Ermordung der europäischen Juden im Dezember, ordnete der Reichsführer-SS Heinrich Himmler im Sommer 1942 die Ermordung aller Juden im „Generalgouvernement“ an. Diejenigen, die in der Rüstungsindustrie – meist in Ghettos oder „Durchgangslagern“ – arbeiteten, wurden vorübergehend zurückgestellt, später aber ebenfalls ermordet; wenige hatten das Glück, unterzutauchen oder in ein „reguläres“ KZ mit minimaler Überlebenschance verlegt zu werden.
Anders als in Auschwitz gab es in den drei Todeslagern im Distrikt Lublin in Ostpolen bis auf sehr wenige Ausnahmen keine Selektionen. Allerdings zwang die Lager-SS, die von meist ukrainischen zwangsrekrutierten Hilfsmannschaften unterstützt wurde, immer wieder Juden aus den Transporten zu Hilfsdiensten bei der Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs.
Diese „Arbeitsjuden“ waren brutalen Schikanen unterworfen, wurden weitestgehend miserabel verpflegt und regelmäßig dezimiert und durch Neuankömmlinge ersetzt; so schätzte ein Überlebender die Gesamtzahl aller in Treblinka eingesetzten Juden auf zehntausend, obwohl in der Regel nie mehr als einige Hundert gleichzeitig eingesetzt waren. Unter ihnen selbst gab es eine beträchtliche Binnendifferenzierung: von „Goldjuden“, die die den Opfern geraubten Wertsachen sortierten, bis zum „Totenkommando“, das unter entsetzlichen Bedingungen die Leichen aus den Gaskammern ziehen und begraben – und ab 1943 wieder „enterden“ und verbrennen – musste.
Nachdem die Lager-SS überhaupt erst im Spätsommer 1942 aus Gründen der Effizienz dazu übergegangen war, ihre „Arbeitsjuden“ nicht mehr in kurzen Abständen zu ermorden, sondern stationäre Arbeitskommandos zu bilden, deren Angehörige theoretisch mit einer gewissen Überlebensfrist rechnen konnten, bildeten sich unter diesen Widerstandsnetzwerke.
Ab 1943 wuchs deren konspirativer Spielraum. Das hatte Gründe: Schon 1942 waren weit über eine Million Menschen in den „Reinhardt“-Lagern ermordet worden, große Transporte wurden seltener. Die Täter, die hier mitten im Krieg ein komfortables Leben mit Gehaltszulagen und Zugriff auf unermessliches Raubgut führten, suchten fortan sich bei Himmler unentbehrlich zu machen, um nicht an die Front zu kommen. Dazu waren sie auf „funktionierende“ Lagerstrukturen und die Kooperation der Arbeitshäftlinge angewiesen.
Aufstand im Warschauer Ghetto
Eine Zäsur für die „Arbeitsjuden“ vor allem in Treblinka war der Aufstand im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943. Als nach dessen Niederschlagung etwa siebentausend ehemalige Ghettobewohner in das Vernichtungslager kamen, wurde den Häftlingen dort klar, dass bald alle Ghettos „liquidiert“ sein würden und man sie dann nicht mehr brauchte. In Sobibor kam Ende Juni 1943 ein Zug mit etwa 300 Juden aus Bełżec an.
Das erste der drei Vernichtungslager hatte bereits zu Ende 1942 seinen Betrieb eingestellt, nachdem dort etwa 450.000 Menschen ermordet worden waren; nach den Aufräumarbeiten deportierte man die verbliebenen „Arbeitsjuden“ unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Sobibor. Dort angekommen, wehrten sie sich und wurden teils noch in den Waggons erschossen. Eingenäht in ihre Kleider fanden die Sobibor-Juden solche Kassiber: „Wir haben ein Jahr in Bełżec gearbeitet. Ich weiß nicht, wohin sie uns jetzt bringen. Sie sagen, nach Deutschland. (…) Wenn dies eine Lüge ist, wisst auch ihr, dass Euch der Tod erwartet. Glaubt den Deutschen nicht! Rächt uns!“
Während des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943. © imago/United Archives International
Am 2. August schlugen die Juden in Treblinka los, an ihrer Spitze Zelo Bloch, Marceli Galewski und Zev Kurland. Die Gelegenheit war günstig, weil an diesem Tag ein Teil der deutschen Wachmannschaft zum Baden an den Bug gefahren war. Die Juden töteten einige Wachleute, aber keine SS-Männer. Bei der Massenflucht entkamen etwa 200 Menschen.
Etwa 60 von ihnen überlebten das Kriegsende und dokumentierten das Erlebte, so Glazar, der Zimmermann Jankiel Wiernik, der zum Bau der gemauerten Gaskammern gezwungen worden war, Chil Rajchman, Oskar Strawczynski und Samuel Willenberg. Mit Letzterem starb 2016 der letzte Überlebende des Lagers. Von den Juden gelegte Brände richteten einigen Schaden an, ließen aber die Gaskammern unversehrt, sodass anschließend noch zwei Transporte mit Juden aus dem Bezirk Bialystok vergast wurden, bevor das Lager aufgegeben wurde.
In Sobibor ging die Initialzündung zum Aufstand von dem sowjetischen Leutnant Aleksandr Petscherski aus. Nachdem man im Kriegsgefangenenlager seine jüdische Identität entdeckt hatte, kam er im September 1943 nach Sobibor. Gemeinsam mit Leon Feldhendler und anderen Beteiligten schmiedete er den Plan, der am 14. Oktober zur Revolte und zum Massenausbruch führte.
Die Juden konnten zwölf Angehörige der Lager-SS töten, insgesamt 600 von ihnen flohen; anders als in Treblinka konnten aber nicht alle Lagerbereiche in die Flucht einbezogen werden. Minenfelder vor dem Lager, die Gegenwehr der Lagermannschaft sowie Suchaktionen führten hier wie im Fall von Treblinka dazu, dass nur wenige Hundert dauerhaft entkamen. Nur 42 von ihnen erlebten das Kriegsende; der Letzte von ihnen, Semjon Rosenfeld, starb 2019 und mit ihm wohl der letzte Überlebende der „Aktion Reinhardt“ insgesamt.
Verzweiflung und Kalkül
In Sobibor wurde der Lagerbetrieb nach der Revolte nicht mehr aufgenommen. Am 3. und 4. November 1943 ermordete die SS in der „Aktion Erntefest“ die letzten etwa 43.000 jüdischen Zwangsarbeiter im und beim Lager Majdanek bei Lublin, das eine bis heute nicht ganz geklärte Doppelrolle als Arbeits- und Vernichtungslager hatte. Die Überlebenden von Treblinka und Sobibor sowie die wenigen, denen die Flucht aus Bełżec (darunter auch aus dem „Todeszug“ im Juni) gelungen war, tauchten unter, schlossen sich Partisanengruppen an oder schlugen sich gar, wie Richard Glazar, getarnt als nicht-jüdische „Fremdarbeiter“ in Deutschland durch.
42der 600 Inhaftierten, die aus Sobibor fliehen konnten, überlebten den Krieg.
Die Aufstände von Treblinka und Sobibor entsprangen Verzweiflung und Kalkül zugleich. Viele Überlebende wollten, so sagten sie, wenigstens unter freiem Himmel und nicht im Lager sterben. Aber genauso wollten sie ihre ermordeten Schwestern und Brüder rächen und sich nicht länger in die Vernichtungsmaschinerie einspannen lassen. Ohne ihren Widerstand gäbe es kaum Augenzeugenberichte vom „Kern des Holocaust“ (Lehnstaedt), und die Nachkriegsprozesse gegen die Täter wären ebenso wie die historische und politische Aufarbeitung anders verlaufen.
Aber es sind unheroische Heldengeschichten: Sie erzählen von Männern und einigen Frauen, die unter brutalsten Bedingungen den Tätern zur Hand gehen mussten; zum Trauma der selbst erlittenen Qualen trat das, Zeuge unfassbarer Grausamkeiten geworden zu sein, ohne eingreifen zu können. Die schier übermenschliche Leistung, sich aus der Hölle befreit zu haben, trat bei vielen dahinter zurück, zumal sie in Deutschland, anders als in Osteuropa, nur wenig öffentliche Anerkennung erfuhren. Und so bedarf vielleicht, 80 Jahre später, nach dem Begriff „Opfer“ auch das Prädikat „Widerstandskämpfer“ in Deutschland eines Paradigmenwechsels.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de