© AFP/Anne-Christine Poujoulat Sicherheit bei der Tour de France: Die Angst vor einem Sturz fährt mit
Auf der 14. Etappe gibt es gleich zu Beginn einen Massensturz. Manche Fahrer scheuen gerade in Abfahrten inzwischen das Risiko.
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Mit einem Massensturz begann die 14. Etappe der Tour de France. Keine zehn Kilometer waren zwischen Annemasse und Morzine am Samstag gefahren, als das halbe Feld schon auf der Straße lag. In einer leicht abschüssigen Rechtskurve kamen einige Fahrer zu Fall. Die Fahrbahn war nass, ob nur Wasser war oder sogar ein Ölfilm die Ursache war, konnte nicht geklärt werden. Aber das Bild, das sich bot, ließ eine große Faust vermuten, die mitten ins Peloton geschlagen hatte.
Fahrer in ihren bunten Trikots lagen weit verstreut auf dem dunkel glänzenden Asphalt und den angrenzenden Wiesen. Räder stapelten sich zu seltsamen Assemblagen. Die Tourärzte in den weißen Hemden und blauen Westen bewegten sich eifrig durch die Landschaft der Verletzten. Sie legten hier einen Verband an, prüften dort die Reaktionen. Und während die Fahrer notdürftig versorgt wurden, kümmerten sich die Mechaniker der Teams schon um das Material. Ersatzräder wurden schnell von den Dachgepäckträgern abgenommen. Zum Glück stoppte die Jury das Rennen. Jeder konnte versorgt werden. Die Bilanz: zwei Aufgaben an Ort und Stelle.
Es war ein schlechtes Omen. Denn schon vor dem Startschuss galt diese 14. Etappe als kritisch. „Fahrer haben mir mitgeteilt, dass der Belag auf der letzten Abfahrt vom Col de Joux Plane schlecht ist“, teilte Adam Hansen, frisch gewählter Präsident der Fahrergewerkschaft CPA mit. Hansen beschwerte sich beim Weltverband UCI und dem Veranstalter ASO. Und sein Insistieren brachte einen Teilerfolg. Die ASO ließ die Abfahrt mit neuem Belag überziehen. Hansen schwang sich am Donnerstag selbst aufs Rad, filmte die Abfahrt und gab Entwarnung.
Das sorgte für Aufatmen im Peloton und letztlich lief auch alles glimpflich ab. „Es ist gut, dass jetzt mehr auf Sicherheit geachtet wird. Denn im Rennen werden die Abfahrten immer wichtiger. Die Männer ganz vorn im Klassement fahren auf den Anstiegen keine großen Abstände mehr heraus. Deshalb spielen sich die Entscheidungen immer mehr auch in den Abfahrten ab“, erzählte Guillaume Martin, Radprofi beim französischen Team Cofidis. Martin, 2020 Bergkönig der Vuelta a Espana, ist ein erfahrener Kletterer. Als Abfahrer indes ist er nicht so gut. Zuweilen hat er regelrechte Blockaden. Das verhindert oft bessere Platzierungen.
Vor dem Start der 14. Etappe gab sein Landsmann Pierre Latour ein bemerkenswertes Interview in der Tagezeitung „Aujourdhui“. Er sprach von seiner Angst bei Abfahrten. „Schon wenn es nur ein wenig feucht wird auf dem Belag, spüre ich, wie sich das Rad anders bewegt. Ich habe den Eindruck, in eine Leere zu fallen“, sagte er. Dramatischer noch wird es, wenn die anderen an ihm vorbeifahren. „Das jagt mir noch mehr Angst ein. Sie sind wie Flugzeuge, die an mir vorbeijagen. Ich spüre ihren Luftzug. Und selbst habe ich nur einen Wunsch: Bremsen“, erzählte er.
Der Tod von Gino Mäder hat einiges verändert
Versucht hat Latour natürlich viel: Mentaltraining, Psychoanalyse, Hypnose. Geholfen hat es wenig. Bei Abfahrten navigiert er nur zwischen kleineren und größeren Schüben von Angst. Vielleicht ist Latour, bei dieser Tour de France immerhin Etappenzweiter bei der Hitzeschlacht zum Puy de Dome – da ging es nur bergauf, nicht bergab –, ja auch nur ganz normal. Und die, die sich die Abfahrten herunterstürzen, als befände sich dort unten der Heilige Gral, sind die Verrückten. „Mein Leben ist mir mehr wert als ein 50. Platz anstelle von Platz 100“, sagt Latour auch.
Besonders seit dem Tod des Schweizer Radprofis Gino Mäder, der bei der Tour de Suisse in einen Abgrund stürzte, sind die Diskussionen über Risiken, die man nehmen kann und Risiken, die man vermeiden sollte, wieder aufgeflammt.
Am Druck auf die Fahrer hat das allerdings wenig geändert. Das gilt für die vorn, mehr vielleicht sogar noch für die hinten. Dort ist die Jagd bergab zuweilen noch wilder. „Bei der Etappe, bei der Gino gestürzt ist, war die Abfahrt vom Pass davor viel gefährlicher. Und da sind die Fahrer, die im Grupetto waren, notgedrungen am Limit gefahren, um nicht aus dem Zeitlimit zu fallen“, erzählte Rolf Aldag, Head of Performance beim Rennstall Bora hansgrohe. Die 50, 60 Fahrer des abgeschlagenen Grupettos holten nach Aldags Rechnung in der Abfahrt tatsächlich sechs Minuten auf die Favoriten heraus. Ist das schon Wahnsinn oder noch Berufsalltag?
Immerhin sind die Reifen und die Bremsen besser geworden. Das hilft bei den Abfahrten. Und die vom Joux Plane wurde neu asphaltiert. Mehr akustische Warnsignale sind auch aufgestellt. Aldag hat sich auch vorgenommen, keinen Druck auf seinen Fahrer Jai Hindley in der Abfahrt auszuüben. „Ich werde ihm kein ‚venga, venga‘ hinterherrufen. Er selbst muss klar im Kopf sein und entscheiden, was er macht“, sagt er über seinen Kapitän, der ebenso in den ersten großen Sturz des Tages verwickelt war.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de