© IMAGO/Jürgen Ritter Kiezblocks ohne Durchgangsverkehr: Berlin kann von anderen europäischen Städten lernen
Sie werden in Berlin immer populärer: Wohnviertel ohne Durchgangsverkehr motivieren zu mehr Fahrrad- und ÖPNV-Nutzung, wie Studien aus dem Ausland zeigen. Ein Gastbeitrag.
Von Dirk von Schneidemesser
„Kiezblocks“ werden in Berlin immer populärer. Oft werden sie per Einwohner:innenantrag gefordert und kommen dann auf die Tagesordnungen der Bezirksparlamente. So auch letzte Woche in der BVV Tempelhof-Schöneberg, wie der Tagesspiegel berichtete. Bisher wurden Kiezblocks von den Berliner Bezirksverordneten in fünf Bezirken positiv aufgenommen; mindestens 16 einschlägige Einwohner:innenanträge wurden angenommen. Acht weitere wurden durch Fraktionsanträge beschlossen. Aber die Debatten zeigen, dass es auch Sorgen gibt. Das ist kein Wunder, denn in Berlin gibt es bisher keinen vollständig umgesetzten Kiezblock. Und was wir Menschen nicht kennen, dem begegnen wir erstmal skeptisch.
Berlin kann von anderen Städten lernen
Die gute Nachricht: Es gibt Erfahrungswerte. Mehrere europäische Städte haben Kiezblock-ähnliche Maßnahmen umgesetzt. Wissenschaftler:innen beobachten die Auswirkungen, so auch im europäischen Forschungsprojekt „TuneOurBlock“, an dem das Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam und das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) in Berlin beteiligt sind. Ein Blick in die Forschungsliteratur birgt Antworten auf Fragen, die immer wieder aufkommen.
Zum Konzept: Die Grundidee der Kiezblocks ist, dass der motorisierte Durchgangsverkehr – ausgenommen Busse und Notfahrzeuge – in Wohnvierteln unterbunden wird. Dabei bleibt der Kiez mit dem Kfz erreichbar: rein und raus mit dem Auto geht, nur eben nicht mehr durch den Kiez zur Hauptstraße auf der anderen Seite. Möglich ist bei Kiezblocks auch, dass kleinere Fußgängerzonen, Aufenthaltsorte oder mehr Grünflächen entstehen. Ein Blick in die Einwohner:innenanträge zu Kiezblocks zeigt, dass die Forderungen sich meist auf die Unterbindung des Durchgangsverkehrs beschränken.
Verlagerung des Kfz-Verkehrs in Nebenstraßen bleibt aus
Häufig kommt eine Frage auf, die auch letzte Woche in der BVV Tempelhof-Schöneberg gestellt wurde: ob nicht nur die Vorteile haben, die im Kiez leben und wohnen. Der Autoverkehr, so die Vermutung, würde sich auf andere Straßen verlagern. Dabei wird davon erwartet, dass der Motorverkehr konstant ist oder wächst. Doch dies hängt davon ab, wie man die Verkehrsinfrastruktur gestaltet. So haben wir in unserer Forschung am RIFS beobachten können, dass mit der Einrichtung der „Pop-up-Radwege“ in Berlin der Radverkehr zunahm, ähnlich wie in anderen Städten, die solche Radwege einrichteten.
Weil Kiezblocks den ÖPNV und den Rad- und Fußverkehr attraktiver machen, werden Wege auf andere Verkehrsträger verlagert. Die befürchtete Verlagerung des Motorverkehrs auf Hauptstraßen oder in den Nachbarkiez bleibt weitestgehend aus. Eine Studie von 2022 zu den „Superblocks“ in Barcelona zeigte, dass in den verkehrsberuhigten Bereichen der Motorverkehr um rund 15 Prozent zurückging. Dabei entwickelte sich der Verkehr in den Straßen um die verkehrsberuhigten Bereiche unterschiedlich: Er nahm in einigen Fällen ab, in anderen leicht – um zwei Prozent – zu.
Auch in London wurden die Verkehrseffekte von Kiezblocks – den sogenannten „Low Traffic Neighborhoods“ (LTN), erforscht. Eine Studie aus diesem Jahr, die 46 LTN unter die Lupe nahm, zeigte einen Rückgang des Motorverkehrs um durchschnittlich 47 Prozent innerhalb der Low Traffic Neighborhoods, wobei der Verkehr an den umgebenden Hauptstraßen weniger als ein Prozent zunahm.
Eine weitere Studie des Imperial College London zusammen mit der London School of Economics ergab, dass die Londoner Kiezblocks zu einer Minderung des Motorverkehrs um knapp 60 Prozent im LTN-Gebiet führten. Der Verkehr auf den umgebenden Straßen sank ebenfalls, wenn auch nur um 13 Prozent. Die Forscher:innen stellten auch eine Reduzierung der Stickstoffdioxide fest. Die Luftqualitätsverbesserung war hier sogar auf den Hauptstraßen stärker als in den Kiezblocks. Diese Ergebnisse decken sich mit Messungen der Luftqualität in anderen Fällen, wie Einschränkungen des Motorverkehrs in der Innenstadt von Madrid, wo die Senkung der Stickstoffdioxide in dem betroffenen Bereich keinen Effekt auf die Stickstoffdioxidkonzentration außerhalb des Bereichs hatte.
Mehr Menschen verzichten auf ein eigenes Auto
Was die Autonutzung angeht, wurde am Beispiel der Londoner Kiezblocks beobachtet, dass die Effekte der Sperrung mit der Zeit zunehmen: Menschen nutzen ihre Autos weniger, gehen öfter zu Fuß und fahren mehr Rad. Nach ein bis zwei Jahren trennen sich manche ganz von ihren Autos. Auch Vertreter der belgischen Stadt Gent berichteten auf einer Konferenz zu Kiezblocks und ähnlichen Konzepten, dass die Autobesitzrate sank, nachdem der autofreie Innenstadtbereich 2017 mit größeren Kiezblocks umrandet wurde. 2015 besaßen die Genter:innen 1,2 Autos pro Haushalt, 2021 waren es 1,0 Autos. So ist zu erwarten, dass Kiezblocks auf Dauer zu einem Rückgang des Kfz-Verkehr auch auf Hauptstraßen beitragen.
Weniger Unfälle, bessere Luft
Ein großer Beitrag zur Verkehrssicherheit konnte ebenfalls durch Kiezblock-Sperrungen festgestellt werden. Der Blick – wieder nach London – zeigt einen deutlichen Rückgang an Verletzten im Straßenverkehr in Kiezblock-Bereichen, wobei keine nennenswerten Veränderungen an den Unfallzahlen an Hauptstraßen festgestellt werden konnte.
Die Erfahrungen, die andere Städte mit Kiezblocks und ähnlichen Maßnahmen machen, zeigen uns, dass Belastungen durch den Motorverkehr auf die Hauptstraßen nicht zu erwarten sind. Im Gegenteil, die Luftqualität wird auch an den Hauptstraßen verbessert. Und da die Verkehrssicherheit an den Hauptstraßen eher gleich bleibt oder mittelfristig gesteigert wird, profitieren auch Anwohner großer Straßen von benachbarten Kiezblocks. Die wissenschaftlichen Beobachtungen entkräften somit die in den Berliner Bezirksparlamenten oft benannte Befürchtung, dass Hauptstraßen stärker belastet werden.
Kiezbocks sind keine Allheilmittel für die Probleme der Städte. Aber sie sind ein guter, schneller, und nicht teurer Teil der Lösung. Nachteile für Anwohner:innen der umliegenden Straßen sind nicht zu erwarten. Die Debatte sollte sich darauf konzentrieren, wie die Vorteile auf möglichst schnelle und faire Weise erreicht werden können.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de