Ein Gefühl der Ohnmacht: Berliner Israelis über einen Alltag voller Unsicherheiten

© IMAGO/Olaf Schuelke Ein Gefühl der Ohnmacht: Berliner Israelis über einen Alltag voller Unsicherheiten

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel, hat sich der Alltag der Israelis in Deutschland verändert. Während die einen vorsichtiger werden, lehnen sich andere gegen die Angst auf.

Von

  • Sabine Schmidt
  • Sönke Matschurek

Es war ein Samstagmorgen, der alles veränderte. Mit dem terroristischen Angriff der Hamas auf die israelische Bevölkerung hat sich nicht nur die Lage der Menschen jüdischen Glaubens in Israel verändert, sondern auch in Deutschland und Berlin. Neue Ängste und Sorgen bestimmen nun den Alltag.

„Und dann lüge ich immer, weil ich Konflikte vermeiden möchte“

Joel J. (24) studiert Lehramt in Berlin, ist deutscher und israelischer Staatsbürger. Seine Familie mütterlicherseits lebt im Norden Israels. Von dem Angriff am Samstag erfuhr er von einem Freund aus Israel, der fragte, ob er im Notfall zu Joel nach Berlin kommen könne.

„Als ich das Ausmaß der Attacke begriffen habe, habe ich eine Angst verspürt, die ich so doll noch nicht kannte. Seit dem letzten Tag des Holocausts sind nie so viele Juden innerhalb eines einzigen Tages getötet worden wie am Samstag. Dass auf der Sonnenallee Menschen gefeiert, Süßigkeiten verteilt und getanzt haben, das kann ich nicht verstehen. Das hat nichts mit Dekolonialisierung oder dem Kampf gegen ein imperialistisches Regime zu tun. Da haben Menschen Massenmord gefeiert. Das ist für mich absolut unmenschlich. Ich selbst habe dennoch nicht das Gefühl, nun in Gefahr zu sein – man sieht mir ja nicht an, dass ich jüdisch und Israeli bin. Ich arbeite als Vertretungslehrer an einer Berliner Schule. In der Willkommensklasse sind auch Menschen aus arabischen Ländern rund um Israel. Mein Nachname, der ein bisschen hebräisch klingt, ist ihnen manchmal suspekt, dann fragen sie mich, ob ich ‚wirklich nur deutsch-deutsch‘ bin. Und dann lüge ich immer und sage ja. Weil ich rein jedes Potenzial für Konflikte vermeiden möchte.“

„Das hätten auch meine Freundin und ich sein können“

Uri Zahavi (33) ist Sportjournalist und Fernsehmoderator beim rbb. Er ist in Tel Aviv geboren, aber noch vor seinem ersten Geburtstag nach Deutschland gezogen, wo er in Charlottenburg auf eine jüdische Grundschule ging. Die väterliche Hälfte seiner Familie lebt in Israel.

„Am Samstagmorgen war mein Handy beim Aufwachen schon voll mit Pushmeldungen und Nachrichten von meiner Familie. Wir waren fürs Wochenende zu den Eltern meiner Freundin gefahren. Als ich vom Angriff las, überkamen mich Fassungslosigkeit und ein Gefühl von Ohnmacht. Danach an den Frühstücktisch zu gehen, war für mich fast unmöglich. Ich habe mich zwar hingesetzt und versucht, irgendwie zu lächeln, hatte aber mein Handy die ganze Zeit auf dem Tisch liegen. Ich dachte: Das hätten auch meine Freundin und ich sein können bei dem Festival, wo Menschen gekidnappt, massakriert, gedemütigt wurden. Die Bilder von den Straßen Neuköllns erschüttern mich zutiefst und haben mein Herz gebrochen. Blanker Hass und Fanatismus, wie man ihn dort sah, haben mir schon immer Angst gemacht und tun es auch jetzt. Das baut eine Drohkulisse für alle jüdischen Menschen und Israelis in Berlin auf. Ich lebe in Charlottenburg-Wilmersdorf und fühle mich hier prinzipiell sicher. Aber ich würde aktuell nicht Hebräisch sprechend oder mit Kippa durch Neukölln laufen. Meine große Sorge ist, dass die Situation weiter eskaliert.“

„Ich hasse nicht und möchte auch nicht gehasst werden“

Nirit Ben-Joseph (61) ist Fremdenführerin in Berlin. Auf ihren Stadtführungen besucht sie häufig auch das Holocaust-Denkmal für die getöteten Juden. 1961 in Israel geboren, kam sie Ender der Achtzigerjahre Berlin wegen der Liebe nach Berlin. Ihre gesamte Familie lebt im Norden Israels.

„Meine Mutter schrieb mir am Samstagmorgen um 8.20 Uhr eine Nachricht, und ich habe sofort angefangen, Nachrichten zu schauen. Im deutschen Fernsehen war nicht so viel zu sehen, dafür aber in den israelischen Nachrichten und den sozialen Medien. Es fühlte sich schon am Anfang an wie ein schlechter Traum. Und da wusste man noch gar nicht, wie schlimm alles wird. Ich hatte geplant, um 9 Uhr zwei Straßen weiter zu einer Stolpersteinverlegung für eine kleine jüdische Familie zu gehen, wo das Mädchen elf Jahre alt war, als sie ermordet wurde. Was für ein schlimmer Zusammenhang an dem Morgen. Nach der Zeremonie bin ich zu meinen Freunden in unser Stammcafé und habe gesagt, ich weiß nicht, wohin mit mir. Was haben die alle gegen uns?

Ich würde mir wünschen, dass die in Neukölln auf der Straße feiernden Menschen einmal in ihrem Leben stehen bleiben und sich überlegen würden, was sie da tun. Sie sollten nicht öffentlich feiern. Wenn sie feiern müssen, dann sollen sie das zu Hause machen. Ich hoffe wirklich, dass die Kinder das nicht sehen, um sich kein schlechtes Beispiel an den Eltern zu nehmen.

Ich wohne seit 36 Jahren in Berlin und fühle mich hier sicher – auch jetzt. Ich hatte mal einen guten Freund, der sich immer Gedanken und Sorgen gemacht hat. Ich habe zu ihm gesagt: ‚Guck mal, wenn jemand uns umbringen möchte, dann wird er uns beide umbringen. Du hast dein Leben verpasst, weil du all die Jahre Angst und Hass gespürt hast. Ich dagegen habe versucht, Spaß am Leben zu haben. Warum soll ich die ganze Zeit mit Angst laufen?‘

Durch meine Arbeit bin ich häufig an jüdischen Orten. Aber Angst habe ich nicht. Ich weiß: Angst und Hass führen uns zu gar nichts. Ich hasse diese Menschen nicht und ich möchte auch nicht von ihnen gehasst werden. Das führt nirgendwohin. Gestern habe ich die Straßenbahn genutzt und eine arabische Frau hat mich nach dem Weg gefragt. Ich wusste: Sie weiß nicht, dass ich Israelin bin. Ich habe ihr extra vehement geholfen. Als sie ausgestiegen ist, hat sie mir noch gewunken.“

„Dass da Süßigkeiten ausgegeben wurden und dass da gefeiert wurde, ist eine Schande.“

Matan ist in Israel geboren und lebt seit 2009 in Berlin. Er hat an der Filmhochschule studiert und arbeitet als Kameramann. Er lebt seit 13 Jahren auf der Sonnenallee. Seit einigen Wochen ist er in Israel, um dort die Dreharbeiten für eine Serie vorzubereiten.

Ich bin um 7 Uhr morgens aufgestanden, weil mein Freund mich angerufen hat. Er hat nur geschrien und geweint. Und dann habe ich im Familien Chat die Nachricht seines Neffen gesehen, in der stand, dass seine Eltern erschossen wurden. Die Schwester meines Freundes wohnt im Kibbuz Cholit, das ist im Süden Israels in der Nähe des Gazastreifen. Sie sind es gewohnt, dass dort Raketen abgeworfen werden. Sie schreiben dann immer, dass sie in den Schutzraum gehen und dann melden sie sich, wenn sie wieder draußen sind. Aber an diesem Morgen war alles anders. Seine Schwester schrieb: Wir gehen jetzt in den Bunker. Und weiter: Wir hören Geräusche in der Nähe des Hauses. Fenstergläser wurden zerbrochen. Dann hörten die Nachrichten auf. Ihre drei Kinder haben sich für viele Stunden versteckt. Auch der Sohn, der die Nachricht vom Tod überbracht hat, wurde von einer Kugel getroffen. Er wurde operiert und liegt noch im Krankenhaus. Aber alle drei Kinder sind jetzt in Sicherheit und bei ihren Großeltern.

Ich habe seit Samstag versucht, Social Media zu vermeiden. Ich konnte ahnen, was dort zu sehen ist. Schreckliche Bilder von Entführungen. Ich will das Gefühl nach unserer Erfahrung nicht noch weiter vergrößern. Die Bilder auf Instagram von der Sonnenallee habe ich trotzdem gesehen. Es ist kompliziert, ich bin Israeli, ich bin hier geboren, das ist meine Existenz.

Aber ich bin seit mindestens zehn Jahren mit der Führung Israels nicht zufrieden. Ich kann den Frust der Palästinenser verstehen. Aber diese Tat als ein Schritt in Richtung Befreiung Palästinas zu feiern, ist einfach dumm. Man kann Pro Palästina sein, aber sich über ein Massaker und die Tötung von Zivilisten zu freuen, dass kann ich einfach nicht zusammen bringen. Dass da Süßigkeiten ausgegeben wurden und dass da gefeiert wurde, ist eine Schande. Aber es ist nichts Neues.

Im kleinen gibt es das schon lange. Ich sehe es auf dem Weg zum Späti. Ab und zu tauchen dort Graffitis und Poster auf. In mein Treppenhaus wurde auch mal Fuck Israel geschrieben. Aber das ist ein Teil des Lebens. Ich kritisiere auch Israelis, die sich nur in bestimmten Nachbarschaften wie Prenzlauer Berg oder im westlichen Stadtteilen aufhalten wollen, weil ich finde, dass es wichtig ist, alles zu sehen und zu kennen. Aber das ist jetzt eine andere Stufe.

Ich fühle mich als Israeli in der Öffentlichkeit nicht wohl. Ich würde niemals die israelische Flagge an mir tragen. Aber ich bin einfach nicht so. Ich bin ein sehr skeptischer Israeli. Ich verstehe die Situation im Gazastreifen total und ich weiß auch, warum sie uns alle attackieren wollen. Man kann diese Situation nicht nur in Schwarz und Weiß sehen. Aber was gerade in Israel passiert ist, ist nicht das Gleiche. Das ist wirklich eine Brutalität, die man schwer beschreiben kann. Man kann pro Palästina bleiben und trotzdem sagen, dass so etwas niemals stattfinden darf.

Wenn ich zurück nach Berlin komme, werde ich mich wahrscheinlich etwas weniger wohlfühlen auf der Sonnenallee als vorher. Normalerweise würde ich dort laut auf Hebräisch telefonieren. Das werde ich vermutlich nicht mehr tun. Aber ich werde dort bleiben. Ich mag Berlin. Raketenalarm – Ich muss zum Bunker, tschüss.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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