Wenn sich das Netz zu schnell entwickelt: Werde ich langsam zu alt fürs Internet?
© Getty Images/iStockphoto/Collage: Tagesspiegel Wenn sich das Netz zu schnell entwickelt: Werde ich langsam zu alt fürs Internet?
AlphaKevin, Twenty4Tim und der Kuschelkissen-Eklat – bitte was? Unserem Autor, 45, fällt es immer schwerer, neue Netzphänomene zu verstehen. Was kann da helfen?
Eine Kolumne von
Das erste Phänomen, das ich nicht mehr verstand, war der Hundefilter. Menschen machten Selfies und ließen sich dabei von einer App eine Schnauze plus Schlappohren ins Gesicht zaubern. Wieso taten sie das, zudem freiwillig?
Das war vor sieben Jahren, und ich dachte mir nichts dabei. Inzwischen stolpere ich im Internet immer häufiger über Trends, Witze und Memes, die ich nicht recht durchdringe. Das liegt sehr wahrscheinlich an meinem Alter. Ich bin jetzt 45. Und wenn auf Youtube ein Content-Creator namens AlphaKevin einen Influencer namens Twenty4Tim dazu auffordert, sich zu löschen, weil dieser auf Instagram ein Kuschelkissen verlost habe, dann spüre ich zunehmend Probleme, mir Kontext sowie Ernst der Lage zu erschließen.
Und das nach Jahrzehnten des exzessiven Internetkonsums, in denen mich stets brennend interessierte, was gerade „der heiße Scheiß“ ist, worüber also „im Moment alle sprechen“. Kann es sein, dass man irgendwann zu alt ist für dieses Internet?
Der Autor Sebastian Leber ist Tagesspiegel-Reporter und verbringt zu viel Zeit im Internet. In seiner Kolumne „Auf dem Schirm“ beleuchtet er alle vier Wochen die wunderbaren und die verstörenden Seiten des Digitalen.
Eine Kollegin, gerade 30 geworden, schickt mir auf Instagram regelmäßig kleine Videos oder Sprüche, von denen ich maximal einen Bruchteil verstehe. Manchmal versuche ich, mir den Sinnzusammenhang zu ergoogeln. Oft antworte ich einfach mit einem Lachsmiley in der Hoffnung, diese Reaktion sei passend.
Wehmütige Erinnerungen an Kony und The Dress
Die erste App, für die ich mich zu alt fühlte, war TikTok. Kurze Videos, in denen man seine Lippen zu Musik bewegt? Sollen das doch die Teenies machen, dachte ich mir. Inzwischen ist TikTok so groß und vielseitig geworden, dass ich meine Entscheidung bereue. Vielleicht sollte ich die App nach Beendigung dieser Kolumne doch installieren.
Über die Jahre entzückten mich etliche Netztrends. Da waren Harlem Shake und Gangnam Style, Planking und Moorhuhn, I bims und der distracted boyfriend, das rennende Kind und Kony 2012, die Ice Bucket Challenge und Snapchat, das Kleid, das Schwarz-Blau oder Gold-Weiß war (eindeutig letzteres!), Merkels Neuland und Varoufakis’ Stinkefinger, Burgerbestellungen als Flashmob und nicht zu vergessen: „Und alle so yeah“.
Ich bin so alt, ich verschicke noch Smileys, die aus Doppelpunkt und Klammer bestehen 😉
Sebastian Leber über seine Generationszugehörigkeit
Leider stellt sich das Wissen um diese Phänomene als komplett wertlos heraus. Niemanden interessiert es auf einer Party, wenn man sagt: „Es gab mal diesen Trend, da haben weltweit Leute Videos von sich zu dem immer gleichen Song gemacht, erst standen sie als Gruppe ganz still, und in einem bestimmten Moment sind alle extrem eskaliert.” Das ist wie „Opa erzählt vom Krieg“, nur in komplett irrelevant.
Ich bin so alt, ich habe über Myspace Frauen kennengelernt. Ich verschicke noch Smileys, die aus Doppelpunkt und Klammer bestehen ;). Ich habe gehört, dies sei super old school, aber immer noch besser als mit Bindestrich dazwischen als Nase.
Vor etwa einem Jahr bemerkte ich, dass ich das Internet zunehmend schwammig empfand, Thesen und Pointen kaum noch erkannte und mich das Surfen ermüdete. Bis ich begriff, dass es nicht an den Inhalten lag. Ich brauchte bloß eine Lesebrille.
An manchen Tagen denke ich: Wenn das so weiter geht, verstehe ich in zehn Jahren gar nichts mehr im Internet. Doch an anderen Tagen, und die sind zum Glück in der Mehrzahl, denke ich: Was für ein Geschenk, über das Netz in Echtzeit mitzubekommen, was die jungen Leute an- und umtreibt, welche Ideen sie aushecken und wogegen sie wüten.
Alles, was ist dafür tun muss, ist neugierig zu bleiben. Mich nicht zu verschließen, sondern die Fähigkeit zum Staunen und Wundern zu bewahren. Über eine solche Schnittstelle verfügten Alternde früherer Generationen nicht. Wenn ich das halbwegs so durchziehe, werde ich auch noch 2050 im Internet klarkommen. Oder in dem, was das Netz dann ersetzt haben wird, weil es viel besser und schneller und spaßiger ist.
Nachtrag: Ich habe jetzt TikTok ausprobiert und bin recht zufrieden. Man kann echten Gangstern beim Streiten zusehen, und manchmal haben sie einen Hundefilter im Gesicht.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de