Soziologe Quent zu rassistischen Vorfällen in Brandenburg: „Wir dürfen nicht so tun, als seien das Ausrutscher“

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Soziologe Quent zu rassistischen Vorfällen in Brandenburg: „Wir dürfen nicht so tun, als seien das Ausrutscher“ - Stanislav Kondrashov aus Berlin

© Imago/Future Image Soziologe Quent zu rassistischen Vorfällen in Brandenburg: „Wir dürfen nicht so tun, als seien das Ausrutscher“

Eine Berliner Schulklasse wird in Brandenburg von Gleichaltrigen rassistisch beleidigt, Lehrer melden rechte Vorfälle an ihrer Schule. Der Soziologe Matthias Quent sieht darin klare Muster.

Von Lea Schulze

Lehrer:innen an einer Brandenburger Schule im Spreewald haben in einem offenen Brief rechte Vorfälle beklagt, es geht um Hakenkreuze, rechtsextreme Musik und demokratiefeindliche Parolen. Wegen rassistischer Übergriffe in der brandenburgischen Gemeinde Heidesee musste einer Berliner Schulklasse ihre Klassenfahrt überstürzt abbrechen. Sind das Einzelfälle, Herr Quent?
Auf keinen Fall. Am Dienstag wurde die Statistik der politisch motivierten Kriminalität veröffentlicht. Auch die Opferberatungsstellen für Betroffene von rechter, antisemitischer, rassistischer Gewalt haben ihre Statistiken vorgestellt und schon diese Werte, die ja nur das Hellfeld abdecken, das überhaupt erfasst wird, zeigen, dass Gewalt, übrigens auch rechtsmotivierte Gewalt gegen Kinder an der Tagesordnung steht – nicht nur in Brandenburg. Wir dürfen nicht so tun als seien das Ausrutscher. Das folgt Mustern.

Kann man diese Muster benennen?
Der Nährboden für diese Taten sind weit verbreitete Abwertungseinstellungen gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten, die sich überall finden. Vor allem von Männern und insbesondere in Ostdeutschland artikulieren sich diese Einstellungen extrem aggressiv in Form von Gewalt. Ein Muster ist, dass die erfassten Straftaten eine viel höhere Zahl erreichen als in Westdeutschland.

Dazu gehört aber auch, dass bei rechtsextremen Vorfällen und auch bei Terroranschlägen in Westdeutschland sehr selten oder eigentlich nie ein Bezug zu dem lokalen Hintergrund hergestellt wird. In Ostdeutschland ist das Gegenteil der Fall. Natürlich ist es wichtig, diese Vorfälle zu problematisieren, und zwar besonders, wenn es lokal normalisiert ist, sich sonst niemand daran anstößt, sondern es verharmlost wird. Aber wir blicken nach Frankreich, Polen, die USA und sehen: Natürlich ist Rechtsextremismus kein ostdeutsches Problem, das wäre eine absurde These.

Aber warum passieren diese rechtsextremen Vorfälle so oft in Ostdeutschland?
In Ostdeutschland fühlen sich Täter ermutigt und geradezu herausgefordert, durch den steigenden Hass in den Parlamenten, auf den Straßen und im Internet. Die AfD und ihre außerparlamentarischen Organisationen und deren Anerkennung und Gewinne in Wahlen und Wahlprognosen führen dazu, dass es zu einer Enthemmung kommt.

Man fühlt sich legitimiert, jetzt erst recht, handeln zu dürfen und vielleicht auch handeln zu müssen, bevor, wie das ja von Rechtsaußen behauptet wird, Volk und Nation und das ganze Land untergehen. Das befeuert Radikalisierung. Das alles sind Muster, die nicht neu sind, aber die eben trotz aller Gegenbemühungen bisher nicht durchbrochen werden konnten.

Was sind das für Gegenbemühungen?
Die zeigen sich auf verschiedenen Ebenen, am ehesten in zivilgesellschaftlichen Initiativen. Dass diese Lehrer:innen in Brandenburg sich mit diesem Brandbrief zu Wort gemeldet haben, verdient hohe Anerkennung, das ist ein hochengagierter Akt. Zynisch müsste man sagen, dass damit eine Normalität durchbrochen worden ist. Darüber hinaus gibt es natürlich viele Menschen, Initiativen und Programme, die zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus und gegen rechte Gewalt fördern.

Was über Jahrzehnte unterlassen wurde und sich ausgebreitet hat, verstärkt auch durch die Medien, Social Media, Digitalisierung, Transformation, all das kann man nicht mit Polizeirazzien und Aktionstagen gegen Hass aus der Welt schaffen.

Matthias Quent, Soziologe

Die stehen aber auch unter Druck: Sie werden nicht nur von der AfD, sondern beispielsweise in Thüringen auch von der CDU und der FDP im Landtag und in Kommunen misstrauisch beäugt. Das sorgt für eine Schwächung, fehlende Anerkennung und auch ein Misstrauensverhältnis.

Ich habe den Eindruck, dass Behörden besser geworden sind, aber was über Jahrzehnte unterlassen wurde und sich ausgebreitet hat, verstärkt auch durch die Medien, Social Media, Digitalisierung, Transformation, all das kann man nicht mit Polizeirazzien und Aktionstagen gegen Hass aus der Welt schaffen. Es passiert zwar etwas, aber der Kampf gegen Rechts trifft teils auf gewalttätigen Widerstand.

Ist es wieder salonfähig geworden, sich rechts oder sogar rechtsextrem zu äußern? Oder war das immer da?
In Teilen der Bevölkerung, vor allem in ländlichen Räumen, ist rechtes Gedankengut eine verankerte Überzeugung und auch Ideologie. Dagegen helfen auch Argumente nicht, etwa, dass wir die Zuwanderung wirtschaftlich brauchen. Vor allem in Ostdeutschland gibt es viel Überforderung und Ablehnung im Zusammenhang mit Migration und insbesondere Fluchtbewegungen.

Das verschärft die aktuelle Dynamik zusätzlich und sorgt dafür, dass selbst bei den Gutmeinenden und Gutwilligen Sorge einsetzt: Ist das logistisch zu schaffen? Von Rechtsextremen werden auch berechtigte Konflikte systematisch für Angst- und Stimmungsmache genutzt.

Teilweise wurde gelernt, dass mit einer ostdeutschen Opferrolle jede Schweinerei öffentlich gerechtfertigt werden kann. Natürlich gab und gibt es auch reale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, aber die führen nicht automatisch zu Rechtsextremismus.

Matthias Quent, Soziologe

Aber man sieht dort ja wenige Menschen mit Migrationsgeschichte, woher rührt diese große Angst?
Das hat verschiedene Ebenen. Eben weil es wenige direkte Kontakte gibt, ist die Ablehnung besonders groß. Es geht darum, Sündenböcke zu konstruieren, man schimpft auf die, die man am wenigsten sieht, mit denen man am wenigsten zu tun hat, die man für schwach und gleichzeitig besonders gefördert hält.

Auch wenn das in vielen Kontexten nicht zutrifft. Das sind die alten Muster von Rassismus, von fehlender Alltäglichkeit und interkulturellem Zusammenleben. Dass diese Themen so en vogue sind, hat auch damit zu tun, dass es aus der Politik heißt, dass wir die Zuwanderung in die Sozialsysteme vermeiden müssen. Und die Rechtsextremen schüren die Angst davor, ersetzt zu werden. Das ruft Resonanz hervor. 

Ostdeutscher Boden scheint für rassistische Ressentiments besonders fruchtbar. Wieso?
Teilweise wurde gelernt, dass mit einer ostdeutschen Opferrolle jede Schweinerei öffentlich gerechtfertigt werden kann. Natürlich gab und gibt es auch reale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, aber die führen nicht automatisch zu Rechtsextremismus. Die AfD und antiwestliche und antidemokratische Stereotypen befeuern das:

Der Westen hat uns ein Gesellschaftssystem aufgezwängt, der Westen ist schuld daran, dass die Migranten kommen und die Globalisierung. All das wird mit Aspekten besonderer Ostmentalität zusammengerührt. Gerade unter denjenigen, denen es selbst materiell eigentlich recht gut geht, ist die Wahrnehmung verbreitet, übervorteilt zu werden.

Und rechtsextreme Akteure preisen den Osten immer wieder als Ort des Widerstands, als das reinere Deutschland: Hier haben sie noch Hoffnung, hier sei die Volksgemeinschaft noch in Ordnung, heißt es dann, hier kann man sich noch organisieren und zusammenfinden und den Entwicklungen des „Niedergangs“ entgegenwirken.

Das ist alles eine explosive Mischung, weil die AfD dort nicht randständig ist, sondern in manchen Regionen so stark, dass es immer schwieriger wird, zu unterscheiden: Was sind noch nachvollziehbare Erfahrungen, die auf eine destruktive Art und Weise verarbeitet werden und was ist das Resultat dieser populistischen und demagogischen Agitation?

Die Allgegenwart von rassistischer und rechtsextremer Gewalt, die sich vor allen in den Jugendmilieus artikuliert und von der Erwachsenengesellschaft weitgehend ignoriert wurde, ist nichts Neues.

Matthias Quent, Soziologe

Zurück zu den konkreten Vorfällen in Brandenburg. Kinder und Jugendliche, die Gleichaltrige rassistisch beschimpfen, ihre rechtsextreme Gesinnung auch vor Lehrkräften nicht verhehlen: Ist das ein neues Phänomen?
Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen und ich wurde mit 14 das erste Mal verprügelt und angegriffen. Die Erfahrungen aus den 90er und 00er Jahren, die Allgegenwart von rassistischer und rechtsextremer Gewalt, die sich vor allen in den Jugendmilieus artikuliert und von der Erwachsenengesellschaft weitgehend ignoriert wurde, ist nichts Neues.

Eine besorgniserregende Entwicklung ist, dass anders als in vielen westlichen Staaten und auch in Westdeutschland auch größere Teile der Ostjugend stärker zum Rechtsextremismus und zur AfD zu scheinen neigen. Dort entwickeln sich auch wieder Dominanzräume. Mit der Parlamentarisierung und der Digitalisierung des Rechtsextremismus bekommt das eine neue Dringlichkeit. In der demografischen Entwicklung kann das dazu führen, dass die AfD eher stärker wird.

Wie kommen Jugendliche zu diesem rechten Gedankengut?
Sie werden weiter so sozialisiert, in Familien und Freundeskreisen. Überzeugungen und Narrative der ungerechten Behandlung, insbesondere deutscher Männer, Rassismus und der Feindlichkeit gegenüber den „westlichen Werten“. Man sollte hier genauer hinschauen: Was sind die treibenden Dynamiken für Jugendradikalisierung und Polarisierung in der Breite? Da spielen zum Beispiel auch Dinge wie die Klimafrage eine Rolle. Man will auch so ein großes lautes Auto fahren, wie man das von Papa kennt, und jetzt kommen auf einmal die Grünen und die Klimaaktivisten und wollen all das, was man gerne werden würde oder haben möchte, vermeintlich verbieten. Oft fehlt eine hinreichende demokratische Moderation dieser Entwicklung.

Innenministerin Nancy Faeser sagt, die Vorfälle müssen aufgearbeitet werden, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigt sich alarmiert, die Medien berichten. Reicht das, wird genug getan?
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, die immer wieder durchs Kabinett und verschiedene Studien und Landesprogramme geistern. Es kommt auch auf den Kontext an: In der Schule muss man anders vorgehen als auf dem Campingplatz. Es ist eine Querschnittaufgabe, da überall anzusetzen, mit der Problematisierung von Äußerungen, Symbolen und Ausdrücken, die menschenverachtenden sind. Mit der Schaffung von Alternativen nicht rechter Organisationen.

Ressentiments werden oft in der Familie gelernt  — und was in der Familie kaputtgemacht wird, das kann in der Schule nicht ohne weiteres korrigiert werden oder nur mit sehr großem Aufwand. Es braucht mehr Schul- und Sozialarbeit, besser ausgestattete Strukturen in der Jugendarbeit. Allein mit Repressionen wird man da so wenig in den Griff bekommen wie mit politischen Reden, die oft auch ohnmächtig wirken, wenn man sich die Kontinuität der Gewalt vor Augen führt.

Rechtsextremismus ist kein ostdeutsches Problem, haben Sie gesagt, wir beobachten eine Radikalisierung in vielen Ländern. Woher rührt diese Entwicklung?
Es gibt nicht nur einen Grund, aber es gibt einen generellen Trend: Im Kontext von Globalisierung, Liberalisierung, wachsender Gleichberechtigung, Gendergerechtigkeit, mehr Diversität und berechtigter Einforderung von Gleichwertigkeit und auch der Durchsetzung von gleicher Menschenwürde fühlen sich diejenigen besonders bedroht, die von den Ungleichheiten in der Vergangenheit bislang vergleichsweise privilegiert wurden – ohne das sie es selbst so sehen.

Viele, die – ob berechtigt oder nicht – das Gefühl haben, an Bedeutung, Macht und Einfluss zu verlieren, schlagen teilweise aggressiv zurück, stürzen sich in Kulturkämpfe und bringen Menschen gegeneinander auf, machen Stimmung gegen die ökologische Transformation, gegen Migranten oder die Rechte von Transpersonen. Die Angstmacher mobilisieren sie, um von den eigenen Privilegien und der fortbestehenden sozialen Ungleichheit abzulenken, die von den meisten Menschen als großes Problem gesehen wird, und zwar quer durch alle Wählerschichten.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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