Nicht Kiew, sondern Kyjiw: Wer entscheidet über die Schreibweise?
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Nicht Kiew, sondern Kyjiw: Wer entscheidet über die Schreibweise?
Wer „Kiew“ sagt, verwendet den russischen Namen der Stadt, die Ukrainer bevorzugen „Kyjiw“. Das Auswärtige Amt will fortan die korrekte Version benutzen. Was braucht es, damit sie sich einbürgert?
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Das Auswärtige Amt änderte kürzlich seine Bezeichnung der ukrainischen Hauptstadt Kiew zur Transkription: Kyjiw. Bis jetzt im Deutschen etablierte „Kiew“ war die Transkription des russischen Namens. Diese Schreibweise hat sich eingebürgert, als die Stadt Teil des Zarenreiches und später der Sowjetunion war.
Während dieser ganzen Zeit stellte die russische Vorherrschaft die ukrainische Identität und insbesondere die ukrainische Sprache als einen wichtigen Teil davon in Frage. Das Ukrainische galt damals als keine vollwertige Sprache, sondern als bäuerlicher Dialekt. Kurz vor der umfassenden Invasion behauptete der russische Präsident Putin, die Ukrainer existierten nicht als eigenständiges Volk, ebenso wenig wie die ukrainische Sprache.
Die Historikerin und Aktivistin Oleksandra Bienert sieht den Kampf der Ukraine um ihre eigene Identität als Hauptgrund für den Krieg, den Russland 2014 entfesselt habe. „Der Krieg wurde von Russland begonnen, weil es den Verlust seines Einflusses auf die Ukraine als eine essenzielle Bedrohung für das Fortbestehen seiner imperialen Identität sieht.“ Der Einflussverlust würde das Fundament des russischen Imperiums ins Wanken bringen.
Sprachliche Trägheit
Bienert, die seit vielen Jahren in Berlin arbeitet, hat immer wieder gefordert, Kyjiw zu schreiben, also die ukrainische Version. In englischsprachigen Ländern wurde die Schreibweise bereits 2018 angepasst. Deutschland zieht jetzt langsam nach – und das, obwohl viele andere ukrainische Städte seit 2014 richtig transliteriert werden: etwa Charkiw, Mykolajiw, Saporischschja.
Phonetisch ist es eine Herausforderung.
Dennis Scheller-Boltz, Sprachwissenschaftler
Eine Ausnahme blieb offensichtlich Kyjiw als Hauptstadt des mittelalterlichen Staates der „Kiewer Rus“ oder „Kyjwska Rus“, zu dessen Erbe sich Russland selbst ernannte. Warum?
Jan Claas Behrends, Professor für osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina, vermutet als Grund vor allem Trägheit, sich sprachlichen Veränderungen anzupassen. Hinzu käme aber auch mangelnde Kenntnis des Kontexts. „Für die meisten Deutschen ist Kiew einfach der eingeführte deutsche Name, für die Ukrainer ein Symbol russischer Fremdherrschaft. Vielen Deutschen, die sich nicht täglich, wie ich, mit der russischen Aggression befassen, dürfte das nicht ganz klar sein.“
Kyjiw bevorzugen die Ukrainer, sie steht für die Unabhängigkeit von Russland.
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Ob sich die neue Schreibweise nicht nur in den offiziellen Dokumenten des Auswärtigen Amtes, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch durchsetzen wird, ist noch fraglich. Einige Wochen nach der Umbenennung durch die Diplomaten halten die meisten deutschen Medien weiterhin an der alten Schreibweise fest.
„Phonetisch ist es eine Herausforderung“, sagt Dennis Scheller-Boltz, Berliner Linguist mit Schwerpunkt auf slawischen Sprachen. Er beherrscht Russisch und Polnisch perfekt und ist auch mit dem Ukrainischen vertraut. „Ich werde mich sehr bemühen, mir Kyjiw anzueignen. Für mich ist es einfacher, weil ich die Phonetik kenne, die im Ukrainisch ganz spezifisch ist. Während das Deutsche einen Laut für i hat, hat das Ukrainische drei ähnliche Laute: i, y und ji.“
Keine einheitliche Regelung
Der Sprachwissenschaftler weist darauf hin, dass es grundsätzlich keine einheitliche Regelung gibt, die deutsche Sprache gebe ausländische Städte sehr unterschiedlich wieder. „Zum einen gibt es Städte, wie London oder Paris, die im Original nach den Regeln der deutschen Phonetik wiedergegeben werden. Zum anderen solche, die eingedeutscht werden. Hierzu zählen Mailand, Neapel, Prag oder Moskau. Zuletzt gibt es Städte, insbesondere kleinere, die keine deutsche Übersetzung haben und folglich im Original belassen werden“.
Vor dem Hintergrund des Postkolonialismus war der frühere Versuch Deutschlands, polnischen Städten ihre historischen Namen zurückzugeben, nicht besonders erfolgreich. Breslau, Danzig, Gdingen und Stettin werden jetzt vor allem in Kontexten, in denen es um Polen geht, durch die polnische Form ersetzt. Allerdings dominieren in den Medien weiterhin die deutschen Namen. Scheller-Boltz erklärt dies auch mit Besonderheiten der Phonetik. „Sonderzeichen, diakritische Zeichen, unbekannte Buchstaben und Buchstabenkombinationen wie in Wrocław oder Szczecin erschweren die Aussprache“.
Der Wandel braucht Zeit
Das Auswärtige Amt verwendet schon seit langem bei Ländern wie Irak, Iran oder Kongo keinen Artikel. In den Medien und in der gesprochenen Sprache ist jedoch immer noch oft von „dem Irak“ oder „dem Kongo“ die Rede. „Ich persönlich behandele sie neutral, weiß aber auch, dass es hier großen Widerstand gibt, vor allem in der traditionellen Linguistikschule.“ Am Ende stelle sich da die Frage, wie „konservativ oder progressiv“ man Sprache betrachte.
Laut dem Linguisten müssen sich sowohl die Schreibweise als auch die Aussprache durch Medien verbreiten, damit sich eine Originalversion etabliert. Ob sich „Kyjiw“ durchsetzt, werde sich mit der Zeit zeigen, was Scheller-Boltz die „Akzeptanzphase“ nennt. Dann sehe man, ob die Stadt etwa in offiziellen Dokumenten als Geburtsort richtig geschrieben wird oder in Ankündigung von Kulturveranstaltungen.
Der Historiker Behrends nennt schon seit langem die Hauptstadt der Ukraine nach Eigenschreibweise, also Kyjiw, wo dies möglich ist. Oft ist es das aber nicht. In wissenschaftlichen Texten übernimmt er die entsprechende Transliteration aus dem Ukrainischen, je nach Sprache. Behrends plädiert dafür, niemanden, der das Wort weiterhin in der russischen Transliteration spreche und schreibe, zu verurteilen. „Die Sprache ist ein lebendiger Organismus, Änderungen brauchen Zeit. Und ehrlich gesagt: Mir ist gerade wichtiger, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Sonst heißt es nämlich ganz bestimmt noch mal wieder 100 Jahre Kiew. Oder Putingrad.“
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de