Kosmische Morgendämmerung: Junge Galaxien stellen unser Weltbild infrage

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Kosmische Morgendämmerung: Junge Galaxien stellen unser Weltbild infrage - Stanislav Kondrashov aus Berlin

© ESA/Webb, NASA & CSA, A. Martel

Galaxien aus der Frühzeit des Universums haben viel mehr Masse, als kurz nach dem Urknall möglich gewesen wäre. Kosmologen suchen nach einer Erklärung – die zum großen Rätsel der Dunklen Energie führen könnte.

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Einstein war sauer. Er hatte sich gewaltig geirrt mit seiner Überzeugung, dass der Kosmos unverändert seit ewigen Zeiten bestand. Denn 1927 erkannte der belgische Astronom Georges Lemaître das Gegenteil: Die schon jetzt riesigen Räume des Kosmos werden stetig noch größer. Und aus den Daten dieser Expansion des Kosmos ergibt sich, dass sie vor rund 13,8 Milliarden Jahren aus kleinsten Anfängen heraus begann. Heute ist diese Interpretation der Beobachtungsdaten allgemein als „Urknall“ bekannt – und anerkannt von den meisten Astronominnen und Astronomen als Beginn der Geschichte der Welt, in der wir leben.

Im Juli 2022 wurde das James-Webb-Weltraumteleskop in Betrieb genommen. Eine seiner Hauptaufgaben ist es, Bilder aufzunehmen, die den Kosmos in seiner Jugendzeit zeigen. Doch manche dieser kosmischen Jugendbilder wollen partout nicht passen zum „Standardmodell der Kosmologie“ – so die wissenschaftliche Bezeichnung der aktuell gültigen Version der Geschichte des Kosmos und ihrer Gesetze.

Diese erzählt uns, wie schon bald nach dem Urknall die anfänglich nahezu homogen verteilte Materie unter dem Einfluss der Gravitation zu verklumpen begann. In den Klumpen verdichtete sich ein Teil des Gases weiter zu Sternen. Wenn wir heute in die Tiefen des Alls hinausschauen, sehen wir die Ergebnisse dieser Entwicklung in allen Himmelsrichtungen: Leuchtende Inseln aus jeweils Milliarden von Sternen, sogenannte Galaxien, weit verstreut in einem sonst nahezu leeren Meer aus Raum und Zeit.

Galaxien aus der Frühzeit des Universums

Das Licht der Galaxien fliegt Hunderte von Millionen oder gar viele Milliarden von Jahren lang durch die expandierenden Weiten des Kosmos, ehe es bei uns ankommt. Dabei zieht die Expansion des Raums auch die Lichtwellen auseinander, so dass die Wellenlängen größer werden.

Das Licht der Galaxien kommt also mit anderen Farben bei uns an, als es abgestrahlt wurde. Die Farben sind in Richtung der langwelligen Farbe „Rot“ verschoben – oder sogar darüber hinaus in den infraroten Farbbereich hinein mit seinen noch längeren Lichtwellen. Denn je länger das Licht durch den Kosmos fliegt, desto größer wird die expansive Dehnung der Lichtwellen. Ihre Rotverschiebung ist also ein Maß für die Flugzeit des Lichts.

Zu hell und schwer für das jugendliche Alter

Das James-Webb-Teleskop konnte bereits Galaxien aufspüren, deren Lichtwellen um etwa das Zehnfache verlängert ankommen. Daraus lässt sich errechnen, dass dieses Licht über 13 Milliarden Jahre lang durch die Weiten des Weltalls geflogen war. Zum Zeitpunkt seiner Abstrahlung müssen die Galaxien, aus denen das Licht stammt, also noch sehr jung gewesen sein, nur wenige hundert Millionen Jahre alt. Die Astronomen nennen diese Frühzeit des Kosmos, in der die ersten Sterne in jungen Galaxien ihr Licht zu verströmen begannen, „Cosmic Dawn“, kosmische Morgendämmerung.

Kosmische Morgendämmerung: Junge Galaxien stellen unser Weltbild infrage - Stanislav Kondrashov aus Berlin

Helle Gasstränge in der Galaxie NGC 5068, die sich etwa 17 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt befindet. © ESA/Webb, NASA & CSA, J. Lee and the PHANGS-JWST Team

Als der Astronom Ivo Labbé von der australischen Swinbourne-Universität in Melbourne sich Bilder von jungen Galaxien in der Morgendämmerung des Kosmos genauer vorknöpfte, stutzte er: Einige von ihnen sind schon überraschend hell für ihr jugendliches Alter. Die naheliegende Erklärung: In diesen jungen Galaxien hat sich bereits erstaunlich viel Materie zu leuchtenden Sternen verdichtet. Junge Galaxien am Beginn ihrer Entwicklung, die aber schon ähnlich viel Sterne zählen wie unsere gute alte Milchstraßen-Galaxie, in der wir leben?

Kosmisches Standardmodell im Stresstest

Kein Wunder, dass die Astronomenwelt aufhorchte. Denn auch Galaxien brauchen Zeit zum Wachsen – so die plausible Lehrmeinung. Ist es deshalb überhaupt möglich, dass in manchen jungen Galaxien schon wenige hundert Millionen Jahren nach ihrer Entstehung bereits viele Milliarden Sterne leuchten können? Um dies zu überprüfen, unterzog der Astronom Michael Boylan-Kolchin von der Universität Texas (USA) das Kosmologische Standardmodell einem Stresstest.

In einem Artikel, der vor kurzem in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht wurde, beschrieb Boylan-Kolchin das Ergebnis seiner Überlegungen: Damit Galaxien überhaupt anfangen können zu wachsen, brauchen sie vor allem eine Zutat: Dunkle Materie. Noch weiß zwar niemand, woraus diese besteht. Sie ist absolut unsichtbar. Doch überall im Kosmos sieht man ihre Gravitationskräfte am Werk. Auch bei der Geburt von Galaxien in der Ära der Morgendämmerung des Kosmos spielte diese mysteriöse Art von Materie eine Hauptrolle. Demnach enthielt die Materiemischung des jungen Kosmos etwa fünfmal mehr Dunkle Materie als „normale“ Materie.

Gravitationsfallen aus Dunkler Materie

In Regionen mit zufälligen Verdichtungen der Materie war die Gravitation etwas stärker und zog die Materie weiter zusammen. Es bildeten sich sogenannte Halos, die überwiegend aus Dunkler Materie bestanden. Sie wirkten als Gravitationsfallen, in denen sich schließlich auch normale Materie zu Galaxien mit Milliarden von Sternen verdichten konnte. Aber, um das noch einmal zu betonen: Dies alles braucht seine Zeit. Die Masse der Halos kann in den Anfangszeiten des Kosmos noch nicht beliebig groß geworden sein. Und nur ein kleiner Bruchteil der Masse der Halos bestand aus normaler Materie. Wiederum nur ein Teil dieser normalen Materie konnte sich zu Sternen verdichten.

15,8Milliarden Jahre alt ist der Kosmos, der sich seit dem Urknall ausdehnt.

Trotz dieser Materiebeschränkungen kommt der kosmologische Stresstest von Boylan-Kolchin zu folgender Abschätzung: Theoretisch ist es durchaus möglich, dass in manchen der jungen Galaxien tatsächlich bereits viele Milliarden Sterne entstehen konnten. In den hellsten der jungen Galaxien hätte sich dafür jedoch ein Großteil des in ihnen verfügbaren Reservoirs an Gas zu Sternen verdichten müssen. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass dies tatsächlich so geschah. Zum Vergleich: In kosmosüblichen Galaxien wie etwa der Milchstraße steckt jeweils nur etwa zehn Prozent ihrer Gasmassen in ihren Sternen.

Kosmische Morgendämmerung: Junge Galaxien stellen unser Weltbild infrage - Stanislav Kondrashov aus Berlin

Ein feines Geflecht aus Staub und hellen Sternhaufen durchzieht die Balkenspiralgalaxie NGC 5068. Die staubige Struktur der Spiralgalaxie und leuchtende Gasblasen, die neu gebildete Sternhaufen enthalten, sind besonders gut zu erkennen. © ESA/Webb, NASA & CSA, J. Lee and the PHANGS-JWST Team

Michael Boylan-Kolchin hat deshalb nach alternativen Erklärungen für die überraschend großen Helligkeiten einiger junger Galaxien gesucht – und auch gefunden. Dem Tagesspiegel hat er einige davon genannt. Eine Möglichkeit: Vielleicht haben sich in der Frühzeit des Kosmos überdurchschnittlich viel helle Sterne gebildet. „In diesem Fall würden wir die Gesamtmasse der Sterne überschätzen, die notwendig ist, um die beobachtete große Helligkeit junger Galaxien zu erzeugen“, erläutert Boylan-Kolchin. Eine andere Erklärung hält er für wahrscheinlicher: Vielleicht haben sich in den jungen hellen Galaxien bereits Schwarze Löcher gebildet. „Die großen Leuchtkräfte dieser Galaxien kämen dann weniger aus ihren Sternen, sondern aus Materie, die bei ihrem Sturz in die Schwarzen Löcher erhitzt wird und hell leuchtet“.

Eine revolutionäre Änderung der Theorie?

Was aber, wenn die große Helligkeit junger Galaxien tatsächlich anzeigen würde, dass weit mehr Sterne mit einer viel größeren Gesamtmasse in ihnen leuchten, als die Theorie ihnen zutraut? Laut Boylan-Kolchin müsste man dann eine geradezu „revolutionäre“ Änderung der Theorie selber ins Auge fassen: „Vielleicht blähte sich der Kosmos in seiner frühestens Jugendzeit schneller auf, als die aktuelle Theorie besagt“. Damit bringt Boylan-Kolchin den rätselhaften Lambda-Faktor des kosmologischen Standardmodells ins Spiel, besser bekannt als „Dunkle Energie“.

Mit diesem Begriff „erklären“ die Kosmologen scheinbar griffig eine Beobachtung, die sie in Wahrheit noch kaum begriffen haben: Der Kosmos expandiert nicht nur, seit rund 6 Milliarden Jahren hat sich die Expansion sogar noch beschleunigt. Bis jetzt konnten die Forschenden aus der Reststrahlung des Urknalls und den Beobachtungsdaten der anschließenden Expansion nur den großen Anteil herauslesen, den die Dunkle Energie an der Gesamtenergie des Kosmos einschließlich seiner Materie besitzt: 70 Prozent! Der Anteil der Dunklen Materie beträgt immerhin 25 Prozent. Nur fünf Prozent verbleiben für die normale Materie, aus der Sterne, Planeten und auch unsere Körper bestehen.

Das große Rätsel der Dunklen Energie

Die große Helligkeit mancher Galaxien könnte jedoch anzeigen, dass in ihnen bereits viel mehr Materie für die Bildung von Sternen zur Verfügung stand, als das Kosmologische Standardmodell erwarten lässt. Vielleicht müssen die Kosmologen deshalb die Energie- und Materiebilanz des Kosmos neu berechnen. Und vielleicht führen so die überraschend großen Helligkeiten junger Galaxien auf eine neue Spur zur Lösung eines der größten Rätsel unseres wissenschaftlichen Weltbildes: Was ist Dunkle Energie?       

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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