Klischee der „arbeitsamen“ Vietnamesen: „Wir haben weder eine besondere Vorliebe für Blumen noch sind wir geborene Gastronomen“
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Fleißig, ruhig, integrationswillig – oder Zigarettenschmuggler: So sehen viele Deutsche ihre vietnamesischen Mitbürger. Doch diese Stereotype verdecken eine komplexe soziale Realität, sagt der Sozialforscher Kien Nghi Ha.
Von Oliver Geyer
Herr Ha, in Deutschland leben mehr als 185.000 Vietnamesen und Menschen mit vietnamesischen Wurzeln. Sie waren noch ein kleiner Junge, da sind Sie mit Ihren Eltern als „Boat People“ aus Vietnam geflüchtet. Was hat Ihre Familie ausgerechnet nach West-Berlin verschlagen?
Wir gehörten zu den ersten Kontingent-Geflüchteten, die Ende August 1979 auf Einladung der Bundesregierung aus Hongkong nach Tegel geflogen wurden. Aus heutiger Sicht war das absurd. Aufgrund der großen Hilfsbereitschaft vieler westlicher Staaten hatten wir die freie Auswahl. Wir konnten uns wie im Reisekatalog unsere Lieblingsdestination aussuchen.
Wieso fiel die Wahl Ihrer Eltern auf Deutschland?
Sie dachten: Wir sind Mitte 40 und in den USA erwartet uns ein sozial kalter Kapitalismus, in dem man oben schwimmt oder untergeht. Australien wollten sie aus anderen Gründen nicht. Wir sind eine städtische Familie aus Hanoi, wo meine Eltern beide als ElektrikerInnen gearbeitet haben. Sie hatten Angst, als FarmerInnen im Outback zu enden. Deshalb also Deutschland. Hier waren die „Boat People“ besonders privilegiert. Es gab Sprachkurse, Arbeitsförderungs- und Wohnraumprogramme. So kamen wir ins Märkische Viertel.
Im Vergleich zu dem, was Flüchtende heute erleiden müssen, war das geradezu luxuriös. Warum diese Privilegien?
Der Westen versuchte mit diesen Hilfsgesten auch, nachträglich den Vietnamkrieg der USA zu rechtfertigen. Man wollte zeigen: Wir standen auf der historisch richtigen Seite, die für Menschenrechte und Demokratie gekämpft hat, während die Kommunisten Elend und Flucht verursachen. Das waren publikumswirksame Aktionen, wir hatten die volle Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Es gibt noch Fernsehaufnahmen, wie die ersten Boat People am Flughafen Hannover durch Spaliere der Polizei liefen – nicht weil man sie vor einer feindseligen Bevölkerung schützen musste, sondern weil die Anteilnahme und das Willkommen so groß waren.
Trotzdem haben Sie frühzeitig Rassismus erfahren.
In meiner Schulklasse war ich neben einem deutsch-ägyptischem Zwillingspärchen das einzige Ausländerkind. Die beiden anderen wurden noch viel mehr gemobbt, vor allem von den weißen deutschen Jungs.
Wie erfahren Sie als asiatisch aussehender Mann heute Rassismus?
Auch wenn es durch Corona zeitweise wieder schlimmer geworden ist mit anti-asiatistischen Diskriminierungen – in den Berliner Innenstadtbezirken kann ich mich heute viel entspannter bewegen. Im Vergleich zu früher werde ich nicht mehr ständig angestarrt. Nichtsdestotrotz erlebe ich verstörende Momente, etwa wenn ich vor einem Ostberliner Einkaufszentrum aus heiterem Himmel von der Polizei kontrolliert werde und mein Rucksack nach Schmuggelware durchsucht wird. Es gibt nach wie vor einen strukturellen und institutionellen Rassismus, auch in der Wissenschaft. Die ist ohnehin ein Haifischbecken mit knappen Ressourcen, da werden postmigrantische Leute mitunter als Emporkömmlinge und unangenehme Konkurrenz wahrgenommen. Außerdem gibt es Vorbehalte, wenn Betroffene über Rassismus forschen. Wir werden leicht verdächtigt, nicht die nötige Objektivität an den Tag zu legen.
Es gibt nach wie vor einen strukturellen und institutionellen Rassismus, auch in der Wissenschaft
Kien Nghi Ha
Hat Deutschland, auf das Ihre Eltern viele Hoffnungen richteten, es Ihnen schwer gemacht, sich zu integrieren?
Die Frage ist erstmal, was mit Integration gemeint sein soll. Geht es um gleichberechtigte Zugänge zum Bildungssystem, zum Arbeitsmarkt, zur Wohnraumversorgung? Dann liegt hier eine Menge im Argen, weil viel von der Frage abhängt: Welchen Pass hast du und bist du weiß? Ich persönlich benutze den Begriff Integration gar nicht, denn ich halte es für problematisch, dass die deutsche Debatte um die Frage der kulturellen Assimilation kreist – statt sich an demokratischen Werten wie Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Antidiskriminierung auszurichten.
Deutscher, Vietdeutscher, Asiatisch-Deutscher. Wie sehen Sie sich selbst?
Ich bezeichne mich als asiatisch-deutsche Person und fühle mich als Teil der deutschen Gesellschaft und Kultur. Aber es gibt diese Ambivalenz, weil ich weiß, dass in Deutschland das Selbstbild einer rein weißen Gesellschaft noch stark verankert ist – und damit verknüpft ist die Idee der Assimilation in eine imaginierte „deutsche Leitkultur“. Der CDU-Oppositionsführer Friedrich Merz hat sie wieder aus der Mottenkiste geholt. Zum Glück ist das nicht die einzige Idee, wie sich verschiedene kulturelle Identitäten in Deutschland entwickeln sollen.
1992 wurde das Asylbewerberheim Rostock-Lichtenhagen von Rechtsradikalen in Brand gesetzt. © dapd/Nordlicht
Gibt es in Deutschland die Tendenz, asiatische Menschen als Opfer von Rassismus zu übersehen?
Ja, diese Tendenz sehe ich. Atemberaubend ist zum Beispiel, wie lange beim Gedenken an das Pogrom 1992 in Rostock-Lichtenhagen die Betroffenen weitgehend außen vor blieben. Damals ist unter dem Applaus vieler Anwohnender ein Asylwohnheim angegriffen und eine Unterkunft für vietnamesische VertragsarbeiterInnen in Brand gesetzt worden. Es war das größte Pogrom seit 1945. Lange wurde das als „Krawalle“ oder „Ausschreitungen“ verharmlost. Inzwischen scheint die Kritik angekommen zu sein. In offiziellen Verlautbarungen zum 30. Jahrestag im letzten Jahr hat die Stadt Rostock die Ereignisse erstmals so benannt, was sie von Anfang an waren: als Pogrom. Vor ein paar Jahren wurden auch Mahnmale errichtet, die allerdings so abstrakt sind, dass sie kaum jemand versteht und viele selbst dann nach ihnen suchen, wenn sie direkt davor stehen. Absurd! Was ich auch vermisse, ist ernsthafte Forschung über die Hintergründe und die Nachwirkungen.
Dabei gehört Deutschland zu den Urhebern des anti-asiatischen Rassismus – wie Sie selbst als Forscher zeigen.
Der Diskurs über die sogenannte gelbe Gefahr ist „Made in Germany“ und wurde hier erfunden. 1895 hat Kaiser Wilhelm II. den Maler Hermann Knackfuß mit einem Gemälde beauftragt, das einen Buddha auf einer bedrohlich dunklen Wolke zeigt. Zu sehen ist auch Erzengel Michael, der die nationalen Schutzpatroninnen zusammenruft. Sie sollen Europa vor der heraufziehenden Gefahr aus dem Osten beschützen. Anti-asiatische Konstruktionen waren in Romanen, in Filmen und auf der Bühne seither sehr präsent, aber als gesellschaftliches Problem wurde das kaum thematisiert. Daher habe ich vor Kurzem die Filmreihe „Asiatische Präsenzen in der Kolonialmetropole Berlin“ im Sinema Transtopia kuratiert, die anti-asiatische Bezüge und Exotisierungen in der deutschen Populärkultur thematisiert. Der gleichnamige Sammelband erscheint Ende 2023.
Es gibt auch unter Vietdeutschen viele BildungsverliererInnen aus sozial benachteiligten Familien.
Kien Nghi Ha
Heute gibt es auch positive Zuschreibungen, etwa jene des vietnamesischen Bildungswunders – dass die ostasiatischen Zuwanderer besonders leistungsstark und integrationswillig seien.
Auch so ein Klischee. Sieht man sich das genauer an, gibt es große Diskrepanzen. Es gibt auch unter Vietdeutschen viele BildungsverliererInnen aus sozial benachteiligten Familien, die es aus unterschiedlichen Gründen nicht schaffen und sogar ohne Abschluss die Schule verlassen. Diese Stereotype verdecken eine komplexe soziale Realität.
Und wie sieht die aus?
Das sprengt hier den Rahmen. Nur so viel: Einige vietdeutsche Kinder und Jugendliche mögen überdurchschnittlich gut abschneiden im deutschen Schulsystem. Aber ob es nun um Bildung oder um Kriminalität geht – mit Blick auf die Verhaltensmuster von Personen of Color ist meine These, dass man in einer strukturell rassistischen Gesellschaft vor allem unterschiedliche Survivaltechniken beobachten kann. Und in vielen asiatisch-deutschen Familien sagen die Eltern ihren Kindern eben: Wenn du hier eine Chance haben willst, musst du besser sein als die Deutschen.
Was ist mit dem konfuzianischen Bildungsideal, das zur Erklärung oft angeführt wird?
Das spielt sicherlich eine Rolle. Wenn Menschen sehen, dass sie nur so in der neuen Gesellschaft Fuß fassen und sozial überleben können, mobilisieren sie tradierte Ressourcen und Kulturtechniken. Aber die Situation ist komplexer, besonders wenn wir uns die zweite und dritte Generation anschauen, die hier aufgewachsen sind, sich als Deutsche fühlen und andere Ansprüche an die Gesellschaft stellen. Das Klischee der harmonieorientierten Asiaten wird ihnen ganz sicher nicht gerecht.
Gastarbeiter aus Vietnam kommen 1973 in Ost-Berlin an. © picture-alliance/ ZB/Horst Sturm
Wie war es bei Ihnen zu Hause?
Bei mir gab es keinen großen Druck. Es ging um allgemeine Werte, wie man ein gutes Leben führt. Dazu gehört natürlich auch eine gute Ausbildung. Ansonsten haben meine Eltern mir die Freiheit gelassen, meinen eigenen Weg zu gehen. Was ich ihnen hoch anrechne.
Werden in Deutschland verschiedene Gruppen von Migranten gegeneinander ausgespielt?
Hier die gesetzestreuen und leistungsbereiten Vietnamesen, dort die türkischen und arabischen Migranten, die all das angeblich nicht sind. Solche Gegenüberstellungen hat es seit der Aufnahme der „Boat People“ immer wieder gegeben. Ein Phänomen, das in vielen Einwanderungsgesellschaften zu beobachten ist: Der Versuch der rassistischen Dominanzkultur, unterschiedliche Minoritäten gegeneinander auszuspielen.
Bei uns im Kiez gibt es einen Supermarkt, der von einem Vietdeutschen geführt wird. Alle sind begeistert von dem Lädchen mit der genial großen Auswahl auf kleinsten Raum. Der Mann studierte Kybernetik. Was geht Ihnen bei sowas durch den Kopf?
Ich frage mich sofort: War es seine freie Entscheidung, seine wissenschaftliche Passion aufzugeben, oder gab es dafür strukturelle Gründe? Musste er vielleicht einsehen: Hier in Deutschland habe ich als vietnamstämmiger Ingenieur keine Chance? Womit wir wieder bei der Frage sind, ob in dieser Gesellschaft jeder und jede die Möglichkeit hat, seinen oder ihren gewünschten Lebensweg einzuschlagen. Natürlich ist es durchaus möglich, dass der Mann ein erfülltes Leben führt in einer Nachbarschaft, die ihn und seine Leistung anerkennt und ihn in ihrer Mitte aufgenommen hat.
Trotzdem ist es wichtig, von den Klischees loszukommen, zu der auch die vermeintliche Geschäftstüchtigkeit gehört. Man muss sich die individuellen Biografien ansehen. Dass viele Vietdeutsche EinzelhändlerInnen wurden, hat oft mit ihrer schwierigen Situation in den 1990ern Jahren zu tun.
Nach der morgendlichen Nachtschicht im Großmarkt wurden noch 16-Stunden-Tage im Einzelhandel gekloppt
Kien Nghi Ha
Wie sah die aus?
Bei der Abwicklung der ostdeutschen Betriebe waren die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen die ersten, die im Zuge der Ethnisierung der Arbeitslosigkeit rausflogen. Danach mussten sie jahrelang einen kräftezehrenden Kampf ums Bleiberecht führen, und durften auf keinen Fall sozialhilfebedürftig werden, wenn sie keine Abschiebung riskieren wollten. Die Bundesregierung stellte sie vor die Wahl: Entweder eine kleine Abfindung von wenigen Tausend DM und vorzeitige Rückkehr nach Vietnam, oder bis Ablauf der ursprünglichen Vertragslaufzeit sich irgendwie durchschlagen. Die Bedingungen dafür waren widrig. Die Banken gewährten ihnen oft keine Kredite und sie waren auf die Unterstützung durch Verwandte und Freunde angewiesen. Der eine zog den anderen hoch und man suchte sich Bereiche, die sonst keiner wollte.
Zum Beispiel den Blumenhandel, wo man mitten in der Nacht aufstehen muss, um die Ware vom Großmarkt zu holen.
Richtig. Es ging schlichtweg um den komparativen Kostenvorteil und die Frage, wer bereit ist, unter selbstausbeuterischen Bedingungen zu arbeiten. Denn nach der morgendlichen Nachtschicht im Großmarkt wurden noch 16-Stunden-Tage im Einzelhandel gekloppt. Doch wenn das der einzige Weg ist, der einem bleibt, geht man ihn. Wir haben weder eine besondere kulturelle Vorliebe für Blumen noch sind wir geborene Gastronomen.
Wie war es nach dem Fall der Mauer, haben sich die West-Berliner mit den Ost-Berliner Vietdeutschen solidarisiert?
Vereinzelt gab es Empathiebekundungen. Aber die Wunden aus dem Vietnamkrieg, der ja auch ein Bürgerkrieg war, waren für die erste Generation noch deutlich spürbar. Der Großteil der „Boat People“ kam aus dem früher mit den USA verbündeten Süden, die meisten VertragsarbeiterInnen hingegen aus dem kommunistischen Norden. Außerdem hatten die Vietdeutschen im Westen oft Angst, in dasselbe rassistische Fadenkreuz zu geraten wie die Vietdeutschen im Osten. Es gab damals stereotype Mediendiskurse über organisierte Kriminalität und Zigarettenmafia. Im Osten waren Vietdeutsche nicht nur zahlenmäßig, sondern auch wegen der Konzentration in Wohnheimen deutlich sichtbarer.
Abgesehen von den vielen Restaurants – welche anderen Formen des Wirksamwerdens vietnamesischer Kultur würden Sie sich für Deutschland noch wünschen?
Das beschränkt sich schon längst nicht mehr auf Kulinarisches. Es gibt einige aufstrebende FilmemacherInnen wie Thi-Hien Mai, SchauspielerInnen wie Dan Thy Nguyen, RapperInnen wie Nashi44, JournalistInnen wie Nhi Le und YouTuberInnen wie Pocket Hazel aus der vietdeutschen Community. Das muss noch mehr werden. Wir müssen viel stärker in Gesellschaft und Politik hineinwirken. Deutschland und Berlin werden dadurch vielfältiger und lebenswerter.
Eine Quelle: www.tagesspiegel.de