Israels Ex-Präsident Rivlin : „Wir haben das Gefühl, ,Nie Wieder’ ist eine leere Worthülse geworden“
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Israels Ex-Präsident Rivlin : „Wir haben das Gefühl, ,Nie Wieder’ ist eine leere Worthülse geworden“
Reuven Rivlin, bis 2021 Israels Präsident, spricht über einen besonderen Holocaust-Gedenktag nach dem Angriff der Hamas. Und er beklagt, dass bei seinem Land mehr denn je mit zweierlei Maß gemessen werde.
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Herr Rivlin, Sie haben kurz vor dem Holocaust-Gedenktag auf Einladung der Europäischen Jüdischen Vereinigung eine israelische Delegation nach Auschwitz angeführt. Am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers waren Sie noch im Amt und mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dort. Was war diesmal anders?
Ich war schon viele Male in Auschwitz. Und Sie haben Recht: In diesem Jahr war es anders.
Inwiefern?
Wir haben in Israel nach dem 7. Oktober das Gefühl, dass das „Nie Wieder“ eine leere Worthülse geworden ist.
Immer wieder haben wir in Auschwitz wie auch bei anderen Gedenkveranstaltungen diese Worte gehört: Nie wieder! Nie wieder! Nie wieder! In dem Augenblick aber, in dem wir uns wehren müssen, weil wir angegriffen wurden, stehen wir fast allein da.
Wie nehmen Sie die verbreitete internationale Kritik an Israel wahr?
Uns wird vorgeworfen, dass wir ein Terrorstaat sind. Uns wird die Schuld gegeben. Dabei haben diese Monster unsere Kinder regelrecht abgeschlachtet. Wir wurden und werden angegriffen – im Süden von der Hamas, im Norden von der Hisbollah, obwohl ihr UN-Resolution 1701 verbietet, so weit in den Süden vorzurücken, wie sie das gerade tut.
Wir müssen jetzt viele Länder daran erinnern, dass auch sie in den Vereinten Nationen „Nie wieder“ geschworen haben. Aktiv müssen sie gar nichts dafür tun. Wir bitten nicht um Hilfe, sondern nur darum, uns tun zu lassen, was wir tun müssen.
Was müssen Sie tun?
Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen die Hamas loswerden, die Juden nur deshalb töten will, weil sie Juden sind. Mit der Hamas ist keine friedliche Koexistenz möglich. Und das heißt, ihre Kämpfer zu töten.
Wie aber kann es Israel gelingen, die Hamas auszuschalten, ohne neuen Hass zu erzeugen, aus dem sich neue Generationen von Terroristen speisen könnten?
Ich hoffe wirklich, dass die Palästinenser verstehen werden, dass wir auch in Zukunft auf Krieg mit Krieg antworten werden. Stellen Sie sich doch nur einmal den hypothetischen Fall vor, dass das kleine Monaco plötzlich Frankreich mit Raketen angreifen und massenhaft Bewohner von benachbarten französischen Städten töten würde. Wahrscheinlich würde Frankreich Monaco zerstören und dort keinen Stein auf dem anderen lassen.
Eine echte Autonomie für die Palästinenser mit einem Parlament, das über alle zentralen wirtschaftlichen und sozialen Fragen selbst entscheidet, kann ich mir […] gut vorstellen. Nur die Zuständigkeit für die Sicherheit müsste in den Händen der israelischen Armee IDF bleiben.
Reuven Rivlin, früherer Präsident Israels
Was wollen Sie damit ausdrücken?
Dass bei Israel andere Maßstäbe angelegt werden. Uns wird gesagt: Ihr müsst das Völkerrecht achten! Das tun wir auch, weil wir uns auf das Selbstverteidigungsrecht der UN-Charta berufen können. Das Rote Kreuz im Gazastreifen wird nicht ermahnt.
Was meinen Sie genau?
Niemand wirft dem Roten Kreuz vor, dass es sich nicht nach den Kindern erkundigt, die von der Hamas als Geiseln genommen wurden. Das ist eigentlich seine Aufgabe. Keiner aber beschwert sich, dass sich das Rote Kreuz nicht für sie einsetzt. Mehr als 80 Kinder wurden entführt, immer noch sind viele in der Gewalt der Hamas.
Man hat sich auch nicht bemüht, die Alten und Kranken unter den Geiseln medizinisch zu versorgen. Die Entführten, die freigelassen wurden, berichteten uns, dass sie nicht einmal Brot hatten. Als es uns aber nicht sofort gelang, Wasser und Nahrungsmittel nach Gaza zu bringen, war der Aufschrei sofort groß.
Der Aufschrei ist erst recht groß angesichts der vielen Toten im Gazastreifen.
Die Situation in Gaza ist schrecklich – für mich auch. Aber die Hamas hat es darauf angelegt, dass die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wird. In jedem Kindergarten, in jedem Krankenhaus, in jedem Hinterhof sind Munition oder Raketen gelagert, die Ashkelon oder Tel Aviv treffen können.
Es ist an der Zeit zu verstehen, dass „Nie wieder“ auch bedeutet, Israel nicht zu bombardieren.
Sehen Sie einen Weg vorwärts?
Wir müssen die Wunden der Vergangenheit hinter uns lassen. Um das tun zu können, müssen wir Vertrauen aufbauen. Wenn wir den Palästinensern nicht vertrauen können und sie uns nicht, wird es keine Lösung geben.
Die Zweistaatenlösung, die wir gemeinsam mit Amerikanern und Europäern anbieten, wollen die Palästinenser nicht, weil ihr neuer Staat von Israel umgeben wäre. Sie könnten also nicht in diesen Staat gelangen, ohne an einem israelischen Checkpoint vorbeizukommen. Gleichzeitig können wir nicht zulassen, dass die Palästinenser die Iraner nach Jerusalem holen – das ginge gegen unsere ureigensten Sicherheitsinteressen. Wir haben also ein Problem.
Vor Jahren haben Sie über eine Föderation gesprochen.
Früher habe ich einmal gedacht, eine Föderation mit Jordanien könnte die Lösung sein. Das wäre aber das Ende des jordanischen Königreiches, was dort auch nicht so gut ankommt.
Eine echte Autonomie für die Palästinenser mit einem Parlament, das über alle zentralen wirtschaftlichen und sozialen Fragen selbst entscheidet, kann ich mir dagegen gut vorstellen. Nur die Zuständigkeit für die Sicherheit müsste in den Händen der israelischen Armee IDF bleiben. Aber so etwas braucht Zeit und das Vertrauen, um an unserer Seite zu leben.
Wir haben geschlafen, waren zu sorglos, dass uns so etwas nicht passieren kann. Wir mussten lernen, dass wir verwundbar sind. Das ist schmerzhaft.
Reuven Rivlin über den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023
Eine Reihe von Staaten der Region haben die Abraham Accords unterzeichnet, deren Ziel mehr Dialog und Zusammenarbeit sind. Kann diese Erklärung helfen, die Versöhnung etwa mit den Vereinigten Arabischen Emiraten oder mit den Saudis, die vor dem 7. Oktober auf einem guten Weg schien, voranzubringen?
Die Abraham Accords sind der Grund für das, was wir am 7. Oktober erleben mussten. Als die Palästinenser erkannten, dass wir kurz vor einem Friedensschluss mit den Saudis waren, sahen Sie für ihre radikalen Vorstellungen die Felle davonschwimmen, griffen uns an und trafen uns unvorbereitet.
Wie konnte das passieren?
Das müssen wir herausfinden. Wir haben geschlafen, waren zu sorglos, dass uns so etwas nicht passieren kann. Wir mussten lernen, dass wir verwundbar sind. Das ist schmerzhaft.
Welche Fehler hat Israel gemacht, wenn Sie auf die Zeit zurückblicken, in der Sie politische Verantwortung getragen haben? Gehört für Sie der Rückzug aus Gaza im Jahr 2005 dazu?
Ich war damals der Meinung, wir hätten uns erst nach Verhandlungen und mit Garantien aus Gaza zurückziehen sollen. Ich war ein guter Freund von Premier Ariel Scharon und war auch Minister in seinem Kabinett, aber ich habe mich damals intern gegen den einseitigen Rückzug ausgesprochen und empfohlen, eine Verständigung darüber zusammen mit den Ägyptern zu erzielen.
Einige der wenigen, die später mit mir in diese Richtung weitergearbeitet haben, waren Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Deutschland ist das für uns hilfreichste Land, wenn es um unsere Sicherheit geht.
Reuven Rivlin, früherer Präsident Israels
Wie sehen Sie die Beziehungen zu Deutschland heute?
In den USA gibt es in Bezug auf Israel große Unterschiede zwischen den Republikanern und den Demokraten – auch wenn uns Präsident Joe Biden natürlich unterstützt. Ich sehe tatsächlich Deutschland als das für uns hilfreichste Land, wenn es um unsere Sicherheit geht. Steinmeier ist ein echter, auch persönlicher Freund. Merkel war eine der besten Regierungschefinnen der Welt.
Weil sie Israels Sicherheit zur deutschen „Staatsräson“ erhob?
Nicht nur. Sie war nicht blind und hat uns auch mal knallhart die Meinung gesagt, wenn es sein musste. Aber sie hat Israel immer ohne Zögern unterstützt – ohne Spiele mit uns zu spielen. Ich hoffe, dass das bei ihrem Nachfolger Olaf Scholz genauso ist – aber das bekomme ich nicht mehr so mit.
Was hat Merkel Ihnen denn gesagt?
Das vergesse ich nie. Sie sagte: Herr Präsident, wir sind nicht nur durch die Vergangenheit verbunden, sondern auch durch die Gegenwart, weil wir gemeinsame demokratische Werte teilen. Bitte sagen Sie allen politisch Verantwortlichen in Israel, dass Sie die Meinungsfreiheit und die Bürgerrechte auch in schwierigen Situationen hochhalten müssen. Für sie war das die beste Garantie, dass auch die künftigen Generationen verbunden bleiben, die den Holocaust nicht mehr aus der eigenen Familiengeschichte kennen.
Das Gedenken ist dennoch wichtig. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung?
Vor allem die Veranstaltung zum 75. Jahrestag 2020: Steinmeier hat damals als erster deutscher Präsident in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gesprochen. Es war eine außergewöhnliche Rede über den Zweiten Weltkrieg, die Shoa und die deutsche Verantwortung, die Spuren hinterlassen hat.
Danach sind wir zusammen in Auschwitz gewesen, Steinmeier hat mich dann in seinem Regierungsflugzeug mit nach Berlin genommen, wo ich die Ehre hatte, vor dem Bundestag zu sprechen.
Schon damals sagten Sie in Ihrer Rede, Europa werde wieder von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht.
Schon damals ging es darum, dass wir das „Nie Wieder“ nicht uns zurufen, sondern der Welt. Die muss immer wieder daran erinnert werden. Wir Israelis wissen genau, was die Welt erfahren hat, nachdem sich am 27. Januar 1945 die Tore des KZ Auschwitz öffneten.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de
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