Geiseldeal in Israel : „Die Befreiten müssen von der Öffentlichkeit abgeschirmt werden“
© AFP/AHMAD GHARABLI
Geiseldeal in Israel : „Die Befreiten müssen von der Öffentlichkeit abgeschirmt werden“
Der Psychiater und Trauma-Experte Martin Auerbach erklärt, was Menschen nach einer Geiselhaft brauchen –und welchen Rat ihm Holocaust-Überlebende gegeben haben.
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Herr Auerbach, Sie arbeiten als Psychiater und Psychotherapeut in Israel schon lange mit traumatisierten Menschen. Heute Nachmittag werden hoffentlich 13 von den Hamas festgehaltene Geiseln befreit, darunter ausschließlich Frauen, Kinder und Jugendliche. In was für einem Zustand befinden sich Menschen, die so etwas Schreckliches durchlebt haben?
Das weiß im Moment niemand. Man weiß auch noch nicht, wie sie untergebracht waren. Wenn sie in einem Tunnel ausharren mussten, haben sie sieben Wochen lang kein Tageslicht gesehen. Falls sie in einer Wohnung oder einem anderen oberirdischen Versteck festgehalten wurden, haben sie die ganzen Bombardierungen miterlebt.
Wir wissen auch nicht, ob ein Teil der Geiseln verletzt oder getötet wurde, vielleicht auch durch die Bombardierungen. Das Einzige, was man weiß, ist, dass die vier Geiseln, die bisher freigekommen sind, in einem Tunnelsystem gefangen gehalten wurden. Daher stellt man sich hier in Israel auf alle Eventualitäten ein.
Wie sollen die Befreiten empfangen werden und was passiert mit Ihnen?
Bisher wurde von offizieller Seite mitgeteilt, dass das Militär die Erstaufnahme machen soll. Darum kümmern sich speziell für diesen Fall geschulte Ärzte. Danach kommen die Befreiten in ein Militärlager im Süden des Landes. Grundsätzlich werden sie total abgeschirmt. Es soll keine Pressekonferenz oder ähnliches geben. Für jemanden, der aus einer Geiselhaft kommt, ist es das Beste, dass er so wenig wie möglich der Öffentlichkeit ausgesetzt wird.
Eine Kollegin von mir, die Traumaforscherin Zahava Solomon, die jahrzehntelang israelische Soldaten betreut hat, die nach dem Krieg 1973 in Gefangenschaft waren, hat dafür eine sehr treffende Metapher gefunden: So wie ein Tiefseetaucher zunächst in eine Dekompressionskammer muss, bevor er wieder auftauchen darf, damit der Druck kontrolliert entweichen kann, genauso behutsam muss man auch mit den Menschen nach einer Geiselbefreiung umgehen. Die können nicht einfach mit allen Freunden reden oder alle Familienmitglieder auf einmal sehen.
Höchstwahrscheinlich hat von den Gefangenen niemand mitbekommen, was nach dem 7. Oktober passiert ist.
Martin Auerbach, Psychiater und Psychotherapeut in Israel
Was braucht eine befreite Person?
Vor allem müssen ihre Wünsche absolut akzeptiert und anerkannt werden. Denn als Geisel hat man überhaupt keinen freien Willen. In der Gefangenschaft wird alles kontrolliert: was man isst, wann man schläft. Man muss auch darauf Rücksicht nehmen, wenn eine befreite Geisel nichts erzählen möchte. Das wird unterschiedlich sein, auch je nachdem wie alt die Person ist. Manche sind vielleicht auch verletzt und müssen medizinisch versorgt werden. Dafür wurden in Krankenhäusern abgeschirmte Bereiche eingerichtet. Andere werden eine psychologische Betreuung brauchen.
Auch wann die Befreiten ihre engsten Angehörigen zum ersten Mal sehen oder anrufen, entscheiden sie selbst. Man wird die Frauen auch nicht sofort fragen, ob sie vielleicht gefoltert oder sexuell misshandelt wurden. Das sollen die Menschen erst erzählen, wenn sie es möchten. Mindestens 24 Stunden sollen sie komplett abgeschirmt werden und auch keine Nachrichten gucken.
Wieso?
Höchstwahrscheinlich hat von den Gefangenen niemand mitbekommen, was nach dem 7. Oktober passiert ist. Sie waren ja wie in einer Taucherglocke unter Wasser. Wenn sie aus einem Kibbuz entführt wurden, wissen sie nicht, ob vielleicht ihre Eltern, Freunde, Brüder oder Schwestern ermordet wurden. Vielleicht wurde ihre Wohnung zerstört oder die ganze Siedlung? Sie wissen vielleicht noch nicht, dass sie gar kein Zuhause mehr haben. Das wäre ein Schock, wenn sie das alles auf einmal gesagt bekämen. Deshalb der Gedanke der Dekompression. Die Befreiten müssen in kleinen Schritten wieder zurückfinden, dürfen zuerst nur wenig Leute treffen, und Informationen sollten sie dosiert erhalten. Sie können auch selbst entscheiden, ob sie erst nach Hause oder in ein Hotel möchten.
Die Entführten haben auch schon vor ihrer Geiselnahme Schlimmes erfahren. Einige wurden auch auf einem Tanzfestival festgenommen und mussten ansehen, wie Freunde erschossen wurden.
Es gibt wenig Berichte von Geiselnahmen, die so brutal abgelaufen sind, deshalb wissen wir wirklich nicht, was für eine Art von Trauma-Arbeit auf uns zukommt. Die Menschen, die auf dem Festival entführt wurden, standen teils unter dem Einfluss von halluzinogenen Drogen. Die hatten gerade auf der Tanzfläche euphorisierend den Sonnenaufgang genossen, und dann kamen die Terroristen und verübten dieses schreckliche Massaker. Kein Mensch weiß, wie die Gefangenen dieses Festivals, von denen viele immer noch nicht freikommen, das bisher verarbeitet haben. Von den Überlebenden des Festivals sind schon einige aufgrund eines Nervenzusammenbruchs in Kliniken eingewiesen worden. Und die Trauerarbeit sowie Schuldgefühle wie „Warum habe ich überlebt und die anderen nicht?“ sind natürlich enorm.
In den Hotels sitzen jetzt einige von den Vertriebenen, die ihr Zimmer nicht mehr verlassen wollen. Vor allem Kinder haben Angst, dass wieder etwas passiert.
Martin Auerbach, Psychiater und Psychotherapeut in Israel
Sie arbeiten sonst viel mit Holocaustüberlebenden und deren Nachfahren. Findet gerade eine Retraumatisierung der israelischen Bevölkerung statt?
Wenn jemand so eine Katastrophe oder starkes Trauma schon einmal erlebt hat, dann verstärkt das natürlich die traumatische Erinnerung. Auch Holocaust-Überlebende haben oft ihr gesamtes Umfeld und ihr Zuhause verloren. Die meisten haben es geschafft, sich ein neues Leben aufzubauen, aber 75 Jahre später ist dieses Leben eben oft noch überschattet durch solche Erinnerungen. Und so wird es auch vielen Opfern des Massakers vom 7. Oktober gehen. Es gibt ebenso viele traumatisierte Rettungskräfte und Ersthelfer und Menschen, die die Leichen identifizieren mussten. Solchen Leuten hilft es oft, wenn sie ein Zeugnis davon ablegen können, was sie gesehen habe, um der Welt mitzuteilen, was passiert ist.
Die von der Hamas verschleppten US-Bürgerinnen Judith Tai Raanan und ihre Tochter Natalie Shoshana Raanan nach ihrer Freilassung am 20. Oktober.
© via REUTERS/GOVERNMENT OF ISRAEL
Hinzu kommt, dass jetzt auch durch den Krieg das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung grundlegend zerstört wurde. Etwa 120.000 Israelis haben ihr Zuhause verloren oder können nicht an ihren Wohnort zurück, weil auch die Region an der Grenze zum Libanon evakuiert wurde. Insgesamt haben wir derzeit einen enormen Anstieg von Leuten, die psychologisch betreut werden müssen. Viele Leute rufen bei den Telefonhotlines an, und alleine in unsere Klinik sind 500 Leute zur Krisenbetreuung gekommen. Aber das alles betrifft natürlich ebenso die Leute in Gaza, da gibt es jetzt tausende Menschen, die Familienangehörige verloren haben.
Wie übersteht ein Mensch so etwas Schreckliches wie die Geiselnahme oder ein Massaker?
Von den Holocaust-Überlebenden wissen wir, dass man es schaffen kann. Die meisten werden wieder in ein normales Leben zurückfinden, obwohl die schwierigen Erinnerungen bleiben werden. Aus der Literatur weiß man, dass 20 oder 30 Prozent eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln werden. Diese werden eine besondere Betreuung und Therapie brauchen. Das betrifft Leute, die etwa zwei Monate später noch sehr starke Symptome zeigen.
Wie äußern sich Symptome von Traumatisierten?
Durch Gereiztheit, Schlafstörungen, Alpträume, depressive Verstimmungen. Oder dass man keine Freude oder Appetit mehr hat, Trauer und Wut spürt. Manche erleben Flashbacks und haben das Gefühl, dass die Katastrophe noch einmal passiert, also sind sie dauerhaft im Krisenmodus. Andere erleben einen Schockzustand, die haben sich von der Realität abgekapselt. Dann gibt es Vermeidungsstrategien, Menschen, die ihre Freunde nicht mehr treffen. In den Hotels sitzen jetzt einige von den vertriebenen Israelis, die ihr Zimmer nicht mehr verlassen wollen. Vor allem Kinder haben Angst, dass wieder etwas passiert. Wir hatten ja bis jetzt immer noch Raketenalarm, und der Krieg wird weitergehen.
Das ist kein singuläres Trauma, das abgeschlossen ist, so wie der 11. September. Es geht immer noch weiter und der Gedanke, dass der Staat uns nicht beschützt hat, ist bei vielen Israelis da. Auch die Wut gegenüber der Regierung aufgrund der geplanten Justizreform kommt bei vielen wieder hoch.
Welchen Rat haben Ihnen die Holocaust-Überlebenden gegeben, wie Menschen so ein schweres Trauma verarbeiten können?
Eine Kollegin von mir hat dazu erst kürzlich eine Kinder-Überlebende befragt. Sie hat gesagt, dass ihr das Gemeinschaftsgefühl in ihrem damaligen Waisenhaus geholfen hat. Alleine schafft man das nicht. Wer damals wollte, der konnte erzählen, und wer nicht, den hat man nicht dazu gedrängt. Außerdem haben sie viel miteinander unternommen, gespielt, Musik gemacht, Landwirtschaft, was damals eben möglich war. Man hat den Kindern damals das Gefühl gegeben: Es gibt diese Hoffnung, dass ihr wieder zu einer Normalität zurückfindet.
Was nehmen Sie davon mit?
Wir dürfen den Menschen nicht das Gefühl geben, dass sie krank sind, sondern müssen ihnen zeigen, wie großartig es ist, dass sie das überstanden haben. Dann müssen wir individuell sehen, was jeder braucht. Jemand, der stumm ist, dem muss dabei geholfen werden, wieder Kontakt aufzunehmen. Jemand, der total überdreht ist, sollte vielleicht schlafen, relaxen oder Sport treiben. Jedenfalls ist es wichtig, dass sie wieder einen sicheren Boden unter den Füßen erhalten.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de