Gedenken an den 9. November 1938: Hinter dem „Nie wieder“ ein Fragezeichen
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Gedenken an den 9. November 1938: Hinter dem „Nie wieder“ ein Fragezeichen
Am 9. November gedenkt Deutschland der 1938 geschehenen Reichspogrome. Doch diesmal ist alles anders. Jüdisches Leben ist bedroht wie nie zuvor seit der Naziherrschaft. Besonders in Berlin.
Von
- Daniel Friedrich Sturm
Vor vier Tagen ist sie 102 Jahre alt geworden. Am Donnerstag begleitet Margot Friedländer die deutsche Politik durch diesen schweren Tag. Diese Frau hat vier Tage nach ihrem 17. Geburtstag erleben müssen, wie Synagogen in Berlin angezündet, Friedhöfe geschändet, Wohnungen zerstört, Jüdinnen und Juden terrorisiert und getötet wurden.
Sie sitzt an diesem Donnerstag um 9 Uhr auf der Ehrentribüne des Bundestages. In ihrer Heimatstadt Berlin, wo die „Endlösung der Judenfrage“, der Holocaust, geplant wurde, und wo sich mit der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 der Hass auf die Juden entlud. Die Abgeordneten erheben sich, als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) sie begrüßt.
Es ist keine klassische Gedenkveranstaltung, die Friedländer unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes verfolgt – die wird später am Vormittag, ebenfalls mit ihr in der Synagoge an der Brunnenstraße stattfinden, auf die kürzlich ein Anschlag verübt worden ist.
Ich erkenne in den vergangenen Wochen zuweilen dieses Land nicht wieder.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland
Nein, das Parlament erinnert nicht nur an ein zeitlich fernes grausames Ereignis. Das Parlament schlägt dabei einen Bogen zum 7. Oktober, als palästinensische Terroristen Israel überfallen und auf grauenerregende Art und Weise rund 1400 Menschen ermordet haben. Seither leben Jüdinnen und Juden wieder in Angst, einer noch viel größeren als ohnehin schon. Geschichte wird zur Gegenwart. Das „Nie wieder“ trägt seither ein Fragezeichen.
Eine schmerzhaft aktuelle Debatte
So beginnt eine in gewisser Weise normale und zugleich schmerzhaft aktuelle Bundestagsdebatte zum „Schutz jüdischen Lebens in Deutschland“ mit den Worten von Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Sie ist als Vorgesetzte der Sicherheitsbehörden des Bundes zuständig und verspricht, dass dieser Schutz „noch besser“ werden soll und muss. Dafür sei sie „in engem Kontakt“ mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Als sie das sagt, blickt sie hoch zu dessen Präsidenten Josef Schuster, der zwischen Margot Friedländer und dem israelischen Botschafter Ron Prosor sitzt.
Der Ist-Zustand aber ist weit davon entfernt, der häufig zitierten deutschen Staatsräson zu entsprechen. Das muss Nancy Faeser einräumen, als sie davon berichtet, wie der Terror der Hamas, „auf unseren Straßen gefeiert“ wird, jüdische Kinder auf dem Schulweg von der Polizei begleitet werden müssen und „online wie offline“ weiter Hass verbreitet wird: „Das beschämt mich, das bricht mir das Herz.“ Die Ministerin kündigt weitere Verbote, eine konsequente Strafverfolgung und Engagement der Bundesregierung gegen den „Antisemitismus an, egal von welcher Seite“.
AfD wettert gegen „linke Migrationslobby“
Mit dem unterscheidungslosen Kampf gegen den Judenhass, unabhängig vom Absender, ist es an diesem Donnerstag aber nicht mehr ganz so weit her. Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch wettert gegen „die linke Migrationslobby“, insbesondere Altkanzlerin Angela Merkel, die massenhaft junge muslimische Männer mit antisemitischen Prägungen ins Land gelassen habe: „Jetzt sind sie da.“ Ihr Parteifreund Götz Frömming bemüht ein älteres Karl-Lagerfeld-Zitat. „Wir können nicht, selbst wenn Jahrzehnte zwischen den beiden Ereignissen liegen, Millionen Juden töten und Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land holen“, hatte der Modeschöpfer 2017 gesagt – und damals Entrüstung geerntet.
Die Linke bezeichnet es als „Schande“, sich nur darauf zu fokussieren, kritisiert Fraktionschef Dietmar Bartsch: „Deutschland hat genug eigenen Antisemitismus.“ Er erinnert daran, dass es nicht die Hamas gewesen sei, die während der Pandemie auf Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen Judensterne getragen habe. „Es ist verstörend, dass manche Linke daran scheitern, Menschlichkeit zu zeigen“, sagt der grüne Agrarminister Cem Özdemir zu den Solidaritätsbekundungen für den Gazastreifen, die ohne Mitleid für das auskommen, was den Israelis widerfahren ist.
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr versucht die Heuchelei der AfD offenzulegen. Er zeigt in Richtung ihrer Fraktion, die die einzige im Bundestag sei mit Abgeordneten, gegen die wegen antisemitischer Straftaten ermittelt werde. Dürr fordert dennoch ebenfalls Korrekturen der bisherigen Migrationspolitik.
Scharfschützen bewachen die Synagoge
Erste feine Risse tun sich in der Mitte auf, wenn es um die politischen Konsequenzen geht, die aus den jüngsten Ereignissen zu ziehen sind. Hatte es nur einen Tag nach dem 7. Oktober noch eine gemeinsame Erklärung von Ampelparteien und Union gegeben, liegen für diese Sitzung zwei unterschiedliche Entschließungsanträge vor.
Für die Union geht CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die Bundesregierung dafür an, dass sie Worten wie denen von Vizekanzler Robert Habeck in seiner Videoansprache längst nicht genug Taten folgen lasse. Der Kampf gegen den Antisemitismus werde, so Dobrindt, „nicht in Bundestagsprotokollen, sondern im Bundesgesetzblatt“ gewonnen.
Kurz darauf, kurz vor elf Uhr, während der Bundestag schon den nächsten Tagesordnungspunkt debattiert, knapp drei Kilometer nordöstlich vom Reichstagsgebäude: An Ron Prosors Seite findet sich Margot Friedländer im Innenhof der Synagoge Beth Zion an der Brunnenstraße ein. Viele, die eben noch im Bundestag gesessen haben, sind der Einladung des Zentralrates der Juden in Deutschland gefolgt. Streng abgeschirmt ist die Synagoge, Scharfschützen sind präsent.
Angehörige verschleppter Geiseln wohnen dem Festakt bei
Der Ort der Zentralen Gedenkfeier an den 9. November 1938 hat Symbolkraft: Am 18. Oktober 2023 wurde ein antisemitischer Brandanschlag auf die Synagoge mitten in der friedlichen, prosperierenden, weitgehend gut situierten Rosenthaler Vorstadt verübt. „Schön, dass Sie da sind“ begrüßt Josef Schuster, der Zentralratsvorsitzende, fast jeden der Spitzenpolitiker mit Handschlag. In der Synagoge sitzen Friedländer und Prosor nebeneinander.
In der ersten Reihe nimmt Bärbel Bas Platz. Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz rahmen hier Schuster ein. Die Partei- und Fraktionschefs von CDU, SPD, Grünen sind da, Dietmar Bartsch, Wolfgang Schäuble, Petra Pau, zudem etliche Minister, unter ihnen Annalena Baerbock, Nancy Faeser und Robert Habeck. Alle Männer tragen, wie in Synagogen üblich, eine Kippa.
Wie präsent der Judenhass der Gegenwart ist, wie präsent 2023 beim Gedenken an 1938, zeigt sich auf der Empore der Synagoge. Hier sitzen etwa ein Dutzend Angehörige von Geiseln, die am 7. Oktober von den Hamas-Terroristen in den Gazastreifen verschleppt worden sind. Kurz vor Beginn des Gedenkens, eilt Habeck auf die Empore, spricht mit den zumeist jungen Männern und Frauen. Auch SPD-Chefin Saskia Esken sucht das Gespräch, umarmt einen jungen Mann.
„Ich erkenne in den vergangenen Wochen zuweilen dieses Land nicht wieder“
Stille herrscht, während ein Film an die Zerstörung der Synagogen erinnert. „1700 Jahre gibt es jüdisches Leben in dem Gebiet, das wir heute Deutschland nennen“, sagt Schuster in dem Film. Die Synagoge im Hinterhof der Brunnenstraße 33 blieb weitgehend verschont, als zu risikoreich galt eine Ausbreitung der Flammen auf die Wohnhäuser drumherum.
Vom „Pogrom unserer Zeit“ spricht Josef Schuster in seiner Rede, vom 7. Oktober, von Davidsternen an Häusern, in denen Juden in Deutschland leben. „Wer zum Tag des Zorns gegen Juden aufruft, dem geht es nicht nur um Israel“, sagt Schuster: „Ich erkenne in den vergangenen Wochen zuweilen dieses Land nicht wieder. Es wurde zugelassen, dass es sagbar erscheint, öffentlich die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden zu propagieren. Es wurde zugelassen, dass sich tausende Menschen mit arabischem Migrationshintergrund, aufgehetzt von radikalen Fanatikern, auf die Straße trauen und all dies fordern … bis heute“.
Wir dulden Antisemitismus nicht. Nirgendwo.
Bundeskanzler Olaf Scholz
Bis in die Mitte der Gesellschaft sei der Antisemitismus vorgedrungen, sagt Schuster, verweist auf den Israel-bezogenen Antisemitismus in deutschen Hörsälen, Theatern und bürgerlichen Vorstadthäusern.
Ausweisung für antisemitische Migranten?
Scholz setzt einen anderen Akzent, sucht weniger nach den Quellen des Antisemitismus als Schuster. Es komme nicht darauf an, ob Antisemitismus politisch oder religiös motiviert sei, ob er von links oder rechts komme, ob er hier gewachsen sei oder von außen ins Land getragen werde, sagt der Kanzler: „Jede Form von Antisemitismus vergiftet unsere Gesellschaft. So wie jetzt islamistische Demonstrationen und Kundgebungen. Wir dulden Antisemitismus nicht. Nirgendwo.“ Migranten, die sich antisemitisch verhalten, droht der Kanzler mit Ausweisung. Beim Kampf gegen Judenhass driftet er dann ins Technokratische, spricht vom „Digital Services Act“ der EU und von „Verstößen von Plattformbetreibern“.
Beim Trauergebet El Male Rachamim erhebt sich die Gemeinde, auch die Geisel-Angehörigen. Unter ihnen ist Alma Sadé, Musikerin, seit 15 Jahren in Berlin lebend „Bring them home now“ ist auf einem Button zu lesen, den sie trägt. Amit Shanis Neffe ist eine der Geiseln, die die Hamas aus dem Kibbuz Be’eri entführte. „Sein Opa wurde in Hof geboren“, erzählt sie. Ausgerechnet in der Geiselhaft wurde er neulich 16 Jahre alt. Wenn sie doch wüsste, wie es Amit geht!
Kurz und bedächtig sind die Gespräche im Innenhof der Synagoge. Ron Prosor schüttelt viele Hände, dankt. Eine kleine, zierliche, betagte Dame verlässt das Gelände, wird zu einer Limousine gebracht: Margot Friedländer entschwindet in den grauen Berliner Nachmittag dieses 9. November 2023.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de
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