Der Erbonkel: Wenn die Beine aus dem Kopf wachsen
© toony/Wikipedia Creative Commons Der Erbonkel: Wenn die Beine aus dem Kopf wachsen
Der Kopf sitzt auf dem Hals. Für gewöhnlich. Doch mitunter verirren sich die Beine an den Kopf. Jedenfalls bei Fliegen. Das liegt an Genen, ohne die auch der Mensch den Kopf verlieren würde.
Eine Kolumne von
Es ist Herbst, die Zeit voller Obst. Und Obstfliegen. Eigentlich hat der Erbonkel den Auftrag, sie zu fangen. Ein paar Tropfen frisch angerührter Hefebrei hat noch jede Fruchtfliege angelockt, ein Trichter auf dem Glas verhindert, dass sie wieder entkommen.
Aber ein paar sitzen immer noch auf den eben frisch gepflückten Äpfeln. Mit bloßem Auge gerade noch erkennbar putzen sie ihre roten Facettenaugen mit dem vordersten ihrer drei Beinpaare. Ihre feinen Antennen vorn zwischen den Augen zittern und scannen die Umgebung, die Mundwerkzeuge tasten vorsichtig über den Apfel.
Es sind Kreaturen aus einer völlig anderen Welt, Aliens, scheint es. Und doch ist Drosophila melanogaster, die Fruchtfliege, Homo sapiens, dem Menschen, der sie gerade fasziniert beobachtet, sehr ähnlich.
Obwohl der gemeinsame Vorfahr von Fliege und Mensch vor über 500 Millionen Jahren gelebt haben muss, und obwohl sie völlig unterschiedlich gebaut sind, benutzen beide Arten noch immer die gleichen Gene, um festzulegen, wo die Beine, der Kopf oder die Augen entstehen sollen. Diese „homeotischen“ Gene, die einem Körperabschnitt gewissermaßen seine Aufgabe, seine Identität verleihen, liegen im Erbgut von Mensch und Fliege sogar noch immer in der gleichen Reihenfolge vor.
Wenn die Beine aus dem Kopf wachsen
Das Gen, das die Identität „Kopf“ vergibt, liegt vorne, während die Steuereinheit für die Ausbildung des Hinterleibs sich am Ende des Komplexes befindet. Die Anordnung der Gene spiegelt also die Körperachse wieder. Gerät das – durch Mutationen – durcheinander, dann kann es passieren, dass Fliegen entstehen, denen am Kopf statt Antennen Beine wachsen. Oder die statt nur dem üblichen einen Flügelpaar zwei entwickeln, als hätte das dritte Brustsegment der Fliege die Identität des zweiten, des Flügel tragenden, kopiert. Diese Drosophila-Mutanten, Antennapedia („Antennenfüßer“) und Bithorax („Doppelbrust“) genannt, entdeckten Forscher schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, lange bevor DNA als das Erbgutmolekül anerkannt oder gar entziffert werden konnte.
„Du sollst die Biester fangen, nicht beobachten“, wird der Erbonkel an seine häuslichen Pflichten erinnert. Ähnlichkeit hin oder her, den Kampf um sein Obst wird dieser Mensch für sich entscheiden. Weg mit den Schmarotzern. Ob es langfristig aber die Spezies Drosophila melanogaster oder Homo sapiens sein wird, deren Gen-Repertoire das evolutive Rennen macht, wird sich erst noch zeigen.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de