Berliner entschlüsseln Berührungssinn: Teilchen, die durch Poren schlüpfen

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Berliner entschlüsseln Berührungssinn: Teilchen, die durch Poren schlüpfen

© Getty Images/Maria Korneeva

Berliner entschlüsseln Berührungssinn: Teilchen, die durch Poren schlüpfen

Der Tastsinn wurde als letzter der klassischen Sinne enträtselt. Doch auch nach Nobelpreis-prämierten Arbeiten dazu blieben viele Fragen offen. Ein Berliner Forschungsteam liefert jetzt die Antworten.

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Ein Text wie dieser wird oft nicht nur über die Augen konsumiert: Er muss auch berührt werden, beim Blättern von Seiten, dem Streichen auf dem Touchscreen oder dem Drehen am Mausrad. Dafür muss der mechanische Kontakt mit der Haut einen Reiz auslösen, der an das Gehirn geleitet wird. 

Wie das funktioniert, kann in Berlin niemand besser erklären als Gary Lewin. Der Wissenschaftler erforscht seit Jahrzehnten am Max-Delbrück-Center (MDC) die Wahrnehmung von Schmerz und Berührung. Er erklärt, dass ein sogenannter Ionenkanal dafür verantwortlich ist – ein Protein, das Berührung in elektrische Signale übersetzt. „Bislang wussten wir nur, dass der Ionenkanal Piezo2 dafür nötig ist“, sagt er.

Zusammen mit seinem Team, berichtet er im Fachblatt „Science“, habe er jedoch einen Kanal namens Elkin1 entdeckt, der praktisch dieselbe Funktion habe. Lewins Team hatte genetisch veränderte Mäuse gezüchtet, denen das Gen für Elkin1 fehlte. Dann reizte es die Pfoten dieser Tiere mit einem Wattestäbchen an der Hinterpfote.

„Normalerweise reagieren Mäuse in 90 Prozent der Fälle auf das Wattestäbchen“, sagt Lewin. „Mäuse ohne Elkin1 ziehen im Gegensatz dazu nur jedes zweite Mal die Pfote zurück.“ Sie nehmen Berührung also deutlich schlechter wahr. 

Poren für geladene Teilchen

Ionenkanäle sitzen als mikroskopisch kleine Pore in der Membran von Nervenzellen. Piezo2 und vermutlich auch Elkin1 sind mechanosensitiv: Streicht oder drückt etwas gegen die Haut, dehnt sich die Membran und die Pore öffnet sich. Dann schlüpfen Ionen – elektrisch geladene Teilchen – hindurch und erzeugen damit ein elektrisches Ungleichgewicht an der Zelloberfläche, das verstärkt und bis in das Gehirn geleitet wird. 

Berliner entschlüsseln Berührungssinn: Teilchen, die durch Poren schlüpfen

Durch einen Ionenkanal in der Membran der Zelle können geladene Teilchen – die Ionen – hindurchströmen.

© Getty Images/iStockphoto

Für die Entdeckung des Piezo2-Proteins erhielt bereits 2021 der US-Forscher Ardem Patapoutian den Medizin-Nobelpreis. Lewin, Entdecker des Elkin1-Proteins, hatte mit Patapoutian Piezo2 charakterisiert: Hier in Berlin hätte sein Team viele wichtige elektrophysiologische Messungen an Patapoutioans Tieren angefertigt, sagt er. Lewins Labor gehört zu den weltweit führenden für diese Art der Untersuchungen. 

Piezo2 ist nur ein Teil der Story: Die Hälfte der Mechanorezeptoren funktionierte komplett normal, obwohl sie kein Piezo2 besaßen.

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Gary Lewin

Eines sei den Forschern damals bereits klar gewesen, sagt Lewin: „Piezo2 ist nur ein Teil der Story. Die Hälfte der Mechanorezeptoren funktionierte komplett normal, obwohl sie kein Piezo2 besaßen“. Das sei seine Motivation gewesen, an dem Thema weiterzuarbeiten. 

Folgt man Lewin, scheint Elkin1 ebenso elementar für den Tastsinn zu sein wie das Piezo2-Protein. Der Nachweis dafür gelang Lewins Team an Zellkulturen: Aus menschlichen Nervenzellen löschte sein Team die Gene für beide Proteine. Daraufhin erzeugten diese keine elektrischen Signale mehr, wenn sie mechanisch gereizt wurden. Die vollständige Entschlüsselung des Tastsinns scheint damit erst jetzt in greifbare Nähe zu rücken.

Ein verfrühter Nobelpreis?

Hat US-Forscher Patapoutian angesichts des neu entdeckten Ionenkanals den Nobelpreis womöglich verfrüht bekommen, ist Berlin damit ein Nobelpreis entgangen? Nein, sagt Stefan G. Lechner vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, der bis 2013 im Labor von Lewin in Berlin forschte. In den Medien sei dies „vielleicht etwas verkürzt“ dargestellt worden, findet er: „Ich denke nicht, dass das Nobelpreis-Komitee den Preis ausschließlich für die Entschlüsselung des Tastsinns vergeben hat, sondern für die Entdeckung der Piezo-Kanäle.“ 

Berliner entschlüsseln Berührungssinn: Teilchen, die durch Poren schlüpfen

Sampurna Chakrabarti aus der Arbeitsgruppe von Gary Lewin hat viele der aktuellen Experimente zum Berührungssinn und Elkin1 durchgeführt.

© Katharina Bohm, Max Delbrück Center

Diese Proteine hätten eine unglaubliche Vielfalt an Aufgaben im gesamten Körper, sagt der Hamburger Professor. „Jede einzelne Zelle ist ständig irgendwelchen mechanischen Reizen ausgesetzt“, etwa in Blutgefäßen, Muskeln, der Blase, der Lunge – „die Liste ist schier endlos“. Schon ohne Erdanziehung fehlten die wichtigen mechanischen Reize – ein Grund, weshalb bei Astronauten Muskelschwund und Probleme mit dem Gefäßsystem aufträten. 

Ob das Elkin1-Protein möglicherweise ebenso umfassende Funktionen im Körper hat, müsse nun in detaillierten Studien auch von anderen Gruppen erst gezeigt werden, sagt Lechner. Auch ob Elkin1 tatsächlich ein mechanosensitiver Ionenkanal ist, sei nach einer einzigen Studie nicht zweifelsfrei erwiesen. Die aktuelle Arbeit sei jedoch „sehr sauber und methodisch einwandfrei“. 

Eine weitere Funktion will Lewin bereits entdeckt haben. Elkin1 ist womöglich am Schmerzempfinden beteiligt, sagt der Berliner: „Das wäre ein neuer möglicher Angriffspunkt für die Behandlung von chronischen Schmerzen.“ 

Transparenzhinweis: Der Autor arbeitete selbst zwischen 2016 und 2019 für das Max-Delbrück-Centrum.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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