Hirn-Implantat steuert Beine: Gelähmter läuft 200 Meter weit

© Credit CHUV / Gilles Weber Hirn-Implantat steuert Beine: Gelähmter läuft 200 Meter weit

Eine drahtlose Verbindung Hirn und Rückenmark macht es möglich: Ein vom Hals abwärts gelähmter Mensch kann wieder gehen. Was bedeutet das für andere querschnittsgelähmte Patienten?

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Für Gert-Jan Oskam endete das gewohnte Leben, als er noch keine dreißig war. Vor elf Jahren verunglückte der Niederländer in China mit dem Motorrad, seither ist er vom Hals abwärts gelähmt. Völlig vollständig war die Lähmung allerdings nicht, kleine Bewegungen waren noch möglich, und so kämpfte Oskam viele Jahre, um ein Ziel zu erreichen: Wieder aufzustehen und gehen zu können. Mithilfe einer neuen Technologie ist ihm das nun gelungen.

Ein Forschungsteam aus Lausanne hat Oskam ein experimentelles Implantat in die Schädeldecke eingesetzt, das mittels Elektroden seine Hirnaktivität ausliest und an ein zweites Implantat im Lendenbereich der Wirbelsäule sendet. Dieses wiederum steuert verschiedene Muskelgruppen an. Wenn Oskam sich nun vorstellt zu gehen, dann setzen sich seine Beine in Bewegung. Wenn auch noch mühsam und auf Krücken gestützt, der vormals Gelähmte kann gehen. „Je nach Tagesform schaffe ich 100 bis 200 Meter, und ich kann zwei oder drei Minuten stehen, ohne mich aufzustützen“, berichtete er auf einer Pressekonferenz. Die Einzelheiten wurde im Fachmagazin „Nature“ publiziert.

Warnung vor falscher Hoffnung

„Ein voll implantiertes Brain-Spine Interface, welches Gehirnsignale über direkt auf die Gehirnhaut aufgebrachte Elektroden ableitet, um einen implantierten epiduralen Stimulator zu modulieren, ist in dieser Form neuartig“, kommentiert Norbert Weidner, Direktor der Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Allerdings könne man keineswegs von „einer neuen Ära“ in der Behandlung querschnittsgelähmter Menschen sprechen, wie das französische Team es getan habe, warnte er: „Wie so häufig in der Vergangenheit, erachte ich dieses Statement als zu gewagt, mit der Gefahr, dass falsche Hoffnungen bei Betroffenen geweckt werden.“

Denn noch ist das Experiment mit nur einem einzigen Patienten geglückt, der nicht vollständig gelähmt war. Zudem hatte Oskam das Implantat im Rückenmark bereits 2017 erhalten und damit, schon ohne das Hirnimplantat, erste Schritte gehen können. Auch bei anderen Patienten hat es solche Versuche gegeben. Die Stimulation wird dann nicht durch eine Imagination des Gehens, sondern durch einen Knopfdruck ausgelöst, oder auch durch eine kleine Bewegung. Die nun durch die Gedankenkontrolle erzielten Verbesserungen seien eigentlich nur geringfügig, sagt Weidner.

Gert-Jan Oksam beim Training © Beatrice Stouvenel

Aus Sicht des Patienten gibt es allerdings einen Unterschied: Zuvor sei sein Gang durch die künstliche Stimulation roboterhaft gewesen, jetzt fühlten sich die Bewegungen natürlicher an, so beschreibt er es: „Davor hat die Stimulation mich kontrolliert, jetzt kontrolliere ich sie, durch meine Gedanken – das ist ein großer Unterschied.“

Interessant ist auch die Beobachtung, dass sich nach 40 Trainingseinheiten die motorischen Funktionen auch ohne das Implantat verbessert hatten. Die gleichzeitige Aktivierung von Nervenzellen im Rückenmark und noch verbleibenden Verbindungen zum Gehirn habe das Wachstum neuer Nervenzellen ausgelöst, so die Erklärung des französischen Teams.

„Ein iPhone-Moment“

Was können sich querschnittgelähmte Patienten von der noch experimentellen Technik erhoffen? Das Team in Lausanne will die Geräte nun weiterentwickeln und bei weiteren Patienten erproben, auch, um Bewegungen im Rumpf und den Armen anzusteuern.

„Es ist erstmal ein großer Fortschritt für diese Technologie“, sagt Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte in Bayreuth. Inwieweit sie auf andere Patienten, zum Beispiel mit kompletter Lähmung, übertragen werden können, bleibe abzuwarten. Abel fügt immerhin an: „Es ist schon so ein bisschen ein iPhone-Moment – als das auf den Markt kam, habe ich zuerst gedacht: ‚Wozu brauche ich GPS beim Telefonieren in einer Großstadt?‘. Jetzt wissen wir es.“

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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