© Siemens Historical Institute Ein Mann unter Strom: Wie Werner Siemens die Welt veränderte
Mit Generatoren, Glühlampen und Straßenbahnen bringt Werner Siemens die Elektrizität in den Alltag. Doch der Unternehmer hat nicht nur geniale Ideen, sondern begeht immer wieder folgenschwere Fehler.
Von Sebastian Kretz
Als im Frühsommer 1859 ein schmächtiger Mann mit krausem Haar einen Dampfer im Hafen von Aden besteigt, ahnt er nicht, dass er in wenigen Tagen nur knapp dem Tod entgehen wird. Monatelang hat er überwacht, wie tausende Kilometer Telegrafenkabel mit einem von ihm entwickelten Wechselstromsystem durchs Rote Meer verlegt werden – eine Pioniertat.
Nun gilt es, die zweite Etappe des Kabels nach Karatschi in Britisch-Indien zu planen. Nach gut 150 Seemeilen fahren mehrere gewaltige Stöße durch das Schiff. Es beginnt sich zu neigen, Passagiere hasten auf die obersten Decks. Der Mann mit dem krausen Haar aber zieht es vor, zunächst Hut und Brille zu suchen. Erst als das Wasser über die Reling strömt, rettet er sich zum Bug, der noch aus dem Meer ragt.
Die Crew rudert die Passagiere in Rettungsbooten zu einem nahen Korallenfelsen. Während andere bald den Lebensmut verlieren, zückt der Mann mit dem krausen Haar sein Taschenmesser. Die Sonne sengt, die Fässer sind leer, aber Werner Siemens legt sich eine Linoleummatte zurecht und eröffnet eine Sandalenwerkstatt: Die Korallen zerschneiden den Damen die Füße – ein Problem, für das er eine Lösung finden musste. Nach vier Tagen rettet ein englisches Kriegsschiff die Schiffbrüchigen vor dem Verdursten.
Beinahe unterzugehen, sich im letzten Moment zu retten, Geschäftsideen zu sehen, wo andere längst aufgegeben haben, daran ist Werner Siemens gewohnt. Es ist die Geschichte seines Lebens. Siemens ist einer der ehrgeizigsten und eigensinnigsten unter Deutschlands aufstrebenden Fabrikanten – kein Kaufmann, kein Geschöpf der Börse.
Die meisten seiner Produkte, etwa den wegweisenden Zeigertelegrafen, hat er selbst erfunden. Dabei ist er so störrisch, dass ihm immer wieder schwere Fehler unterlaufen – und doch wird er etwas schaffen, das bis in spätere Jahrhunderte Bestand hat.
Deutschland reitet auf der Welle der industrielle Revolution
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit kaum kontrollierten Umbruchs. Spät in die Industrialisierung gestartet, sind die deutschen Staaten dabei aufzuholen. Im Ruhrgebiet ist es dem Bergbauunternehmer Franz Haniel gelungen, tief liegende Steinkohle auszubeuten, die nun Fabriken in ganz Deutschland befeuert.
In Berlin betreibt Albert Borsig eine Lokomotivfabrik, die bald die größte Europas sein wird. Die Städte wachsen in enormem Tempo, allen voran die preußische Hauptstadt, in der bereits jener Mann regiert, der bald als Wilhelm I. über ein vereintes deutsches Kaiserreich herrschen wird.
Als Werner Siemens 1816 geboren wird, ist all das unvorstellbar. Ein Jahr zuvor hat der Wiener Kongress die alten Monarchien Europas wiederhergestellt, darunter Dutzende deutsche Kleinstaaten. Das schnellste verfügbare Transportmittel ist die Postkutsche. Siemens wächst auf dem Land auf, sein Vater ist Gutspächter in Lenthe bei Hannover, später in Menzendorf bei Lübeck.
Als Werner mit 15 Jahren auf das Gymnasium kommt, liegt er in allen Fächern zurück. Sein großes Talent allerdings wird bereits sichtbar: In Mathematik holt er innerhalb eines Jahres seinen Rückstand auf, wird fortan zusammen mit älteren Schülern unterrichtet.
Auf Empfehlung eines Lehrers tritt er nach der Schule ins preußische Militär ein und wird 1835 auf die Berliner Artillerie- und Ingenieursschule kommandiert. Erstmals kann er sein Interesse an Technik ausleben, erhält Unterricht in Physik und Chemie. Siemens stürzt sich ins Studium, verbringt ganze Tage in der Bibliothek, feiert nicht, trinkt nicht, pflegt keine Liebschaften.
Als er mit Anfang 20 das Studium abschließt, wird er nach Magdeburg versetzt: Sechs Jahre muss er, der allein wegen der technischen Ausbildung Soldat geworden ist, nun Pflichtdienst leisten. In einer Ecke seines Privatquartiers richtet er sich ein kleines Labor ein, experimentiert mit einem neuartigen Kanonenzünder aus Phosphor und Kali.
Als er eines Tages aus der Kaserne zurückkommt und das Töpfchen berührt, das zum Trocknen auf dem Ofen steht, ertönt ein Knall wie ein Pistolenschuss. Die Masse geht in die Luft, sein rechtes Trommelfell reißt. Vor der Wohnungstür versammeln sich besorgte Nachbarn, die fürchten, Siemens habe sich hingerichtet.
Eine sensationelle Entwicklung
Im Sommer wird er zur Handwerkskompagnie in die Königliche Artilleriewerkstatt nach Berlin versetzt – für Siemens eine Art Hauptgewinn: In der Werkstatt kann er seine technischen Kenntnisse vertiefen und für neue Erfindungen nutzen. Als aber seine Eltern sterben und er Vormund dreier minderjähriger Brüder wird, gerät er in finanzielle Schwierigkeiten und beschließt, sich voll auf die Weiterentwicklung eines einzigen Geräts zu konzentrieren: des elektromagnetischen Telegrafen.
Bisher muss, um den nötigen Strom zu erzeugen, an diesem Gerät eine Kurbel exakt im richtigen Tempo gedreht werden. Dreht sie sich zu schnell oder zu langsam, misslingt die Übertragung. Siemens entwickelt eine Technik, um zwei miteinander verbundene Geräte synchronisieren. Mit diesem sogenannten Zeigertelegrafen bleibt die Übertragung stets stabil.
Er überzeugt Johann Georg Halske, den Betreiber einer feinmechanischen Werkstatt, den Zeigertelegrafen zu fertigen. Monatelang bearbeitet er den größten denkbaren Kunden – das preußische Militär – um einen Auftrag. Schließlich erhält er den ersehnten Zuschlag: Testweise soll Siemens eine Linie entlang der Bahn Berlin–Potsdam errichten. Allein, bisher gibt es den Telegrafen nur auf dem Papier.
Halske in seinem Atelier arbeitet unter Höchstdruck daran, aus Siemens‘ Vorgaben ein funktionierendes Gerät zu herzustellen. Für den 8. Juli 1847 kündigt sich die Telegrafenkommission zu einer Besichtigung der Linie an. Und Halske liefert pünktlich. Siemens notiert, die Beamten seien „ganz entzückt“ gewesen, der Telegraf habe sich „glänzend bewährt“.
Die beiden gründen eine Firma, die als Werkstatt Halske bekannt wird. Und das Geschäft läuft: Das Militär erteilt einen Auftrag für eine Linie im Berliner Umland, dann für Strecken nach Frankfurt, Aachen, Hamburg und Stettin. Erstmals hat Siemens das Gefühl, sein Geschäftsmodell sei auskömmlich. 1849 scheidet er aus dem Militärdienst aus, heiratet bald darauf die entfernt verwandte Mathilde und steigt in das Geschäft mit Seekabeln ein, das ihn 1859 auf jenem Korallenfelsen im Roten Meer stranden lässt.
Die Sache (…) kann eine neue Ära des Elektromagnetismus anbahnen.
Werner Siemens über das von ihm entdeckte dynamoelektrische Prinzip.
Und er steht kurz vor seiner wichtigsten Erfindung. Beim Experimentieren fällt ihm auf, dass der Strom in den Windungen von Maschinen unter bestimmten Umständen enorm gedämpft wird. Wenn es ihm gelänge, so Siemens‘ Annahme, durch eine gegenläufige Drehbewegung von außen diesen Effekt umzukehren, müsste sich die Leistung einer Maschine entsprechend erhöhen. „Die Effekte müssen bei richtiger Konstruktion kolossal werden“, schreibt er an Wilhelm. „Die Sache (…) kann eine neue Ära des Elektromagnetismus anbahnen.“
Siemens hat das dynamoelektrische Prinzip entdeckt. Mit ihm lässt sich Bewegung in Strom umwandeln – und umgekehrt. Er macht sich sofort daran, Anwendungen für seine Entdeckung zu entwickeln, gründet eigens eine Forschungsabteilung.
Während sein Partner Halske, dem Siemens‘ Projekte zu riskant erscheinen, sich aus dem Unternehmen zurückzieht, denkt Siemens nicht daran, das Tempo zu drosseln. Vor allem zwei Technologien treibt er voran, die ohne seine Dynamomaschine undenkbar wären. Zugleich begeht er als Unternehmer in beiden Fällen schwere Fehler.
Verpasste Chancen
1880 setzt er sich in den Kopf, eine Hochbahn entlang der Friedrichstraße zu bauen. Weil er nur die Genehmigung für eine ebenerdige Teststrecke in Lichterfelde – zu dieser Zeit noch kein Teil Berlins – erhält, ist er gezwungen, einen schmalen Zug zu konstruieren, dessen Schienen auf Pflaster verlegt werden können: die elektrische Straßenbahn.
Die Presse ist begeistert, innerhalb von drei Monaten fahren 11.000 Menschen mit der neuen Tram. Kurz darauf baut Siemens weitere Bahnen in Paris und Wien: Überall lieben die Menschen seine Erfindung. Dennoch bietet Siemens keiner der Metropolen an, ein Liniennetz aufzubauen. Er sieht in der Straßenbahn nur eine Vorstufe der ambitionierten Hochbahn, von der er aber keine einzige Stadtverwaltung überzeugen kann.
Die erste permanent elektrisch betriebene Straßenbahn der Welt fuhr in Lichterfelde (heute Berlin), wie hier vermutlich bei ihrem ersten Test am 15. April 1881. © IMAGO/piemags
Aufgrund einer ähnlich störrischen Fehleinschätzung macht er seinen schärfsten Konkurrenten groß: 1883 erwirbt Siemens von dem US-Amerikaner Thomas Edison die Lizenz, auf dem deutschen Markt dessen Glühbirnen zu vertreiben. Den Betrieb der parallel aufzubauenden Stromnetze aber überlässt er dem deutlich jüngeren Unternehmer Emil Rathenau und seiner Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft.
Siemens sieht sich nicht als Stromhändler, verachtet – ganz preußischer Offizier – das Kaufmännische. Rathenau dagegen beschafft sich Geld an der Börse und baut so seine AEG bis zur Jahrhundertwende zum größten deutschen Konzern der Elektrotechnik aus.
Aber auch Siemens‘ Unternehmen wächst weiter, unterhält Auslandsfilialen, beschäftigt allein im Raum Berlin beinahe 4000 Menschen. Gegen Ende der 1880er Jahre, inzwischen Anfang 70, zieht Siemens sich allmählich zurück, überlässt seinen Söhnen Arnold und Wilhelm das Geschäft.
Er wird nun öfter bei Ausstellungen und in der Oper gesichtet, lässt sich von Malern und Bildhauern porträtieren. Im Spätherbst 1892 erkrankt er an einem Lungenödem. Wenige Tage später, am 6. Dezember 1892, kurz vor seinem 76. Geburtstag, stirbt er in seinem Haus in Charlottenburg.
In seiner Lebensspanne hat sich Deutschland von einem bäuerlich-feudal geprägten Flickenteppich in eine geeinte, industrialisierte Großmacht verwandelt. Die Elektrotechnik, einer der wichtigsten Zweige dieser Volkswirtschaft, hat Siemens maßgeblich mitaufgebaut – nicht nur als Unternehmer, sondern vor allem als Erfinder. Und sein Zeigertelegraf, seine Dynamomaschine, seine Straßenbahn trugen maßgeblich dazu bei, dass das Label „Made in Germany“ – eingeführt als Warnung vor deutschen Imitaten britischer Produkte – zu einem weltweit bekannten Gütesiegel wurde.
Dieser Text erschien zuerst bei GEO.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de